Zum Jahresende will ich ausstehende Rezensionen aufarbeiten. Ja, noch etwas Zeit habe ich, aber es hat sich auch einiges angesammelt, wofür mir zeitweise die richtigen Worte oder schlicht die nötige Kapazität fehlte. Anna Burns‘ Milchmann ist so ein Fall. Ich habe das Buch bei Netgalley schon vor einiger Zeit bekommen und gelesen. Es geisterte durch meine Feeds in den sozialen Medien und ich brauchte etwas Abstand. Absolut tauglich für #WirlesenFrauen aus vielen Gründen, hatte ich es bereits letztes Jahr dazugezählt, weil ich es noch vor März 2020 gelesen habe.
Wer ist der Milchmann?
In Milchmann erzählt eine sprunghafte und unzuverlässige Erzählerin ihre Geschichte. Ein älterer Mann lauert ihr auf, versucht sie immer wieder zu verführen. Bald tuscheln alle, Gerüchte greifen, ihr Leben gerät aus den Fugen, obwohl er sie absolut nicht interessiert. Hinter diesem Plot aber liegt viel mehr. Es geht um Familia und Politik, um Gesellschaftsstrukturen und Liebe. Es geht um die Pathologie des Lebens und des menschlichen Seins.
So schön und faszinierend das alles klingt, ich hatte mit dem Buch so meine Probleme. Die Figuren haben selten Namen und werden eher durch Zuschreibungen definiert. „Große Schwester“, „Schwager Nummer drei“, und eben auch der Milchmann. Dieses stilistische Spiel alleine funktioniert, denn als Leserin kenne ich die Figuren ja nur unter diesen Bezeichnungen. Daneben bringt die Unzuverlässigkeit der Erzählerin es mit sich, dass redundante Moment entstehen. Passagen werden mehrmals erzählt, manchmal enttarnt sich erst beim dritten oder vierten Mal, was wirklich dahinter steckt. Es ist ein eigenwilliger Zugang zur Realität, der eng subjektiv ist und hoch interessant, aber auch anstrengend.
Eigenwillig lesenswert
Die Geschichte ist ein Rätsel und je nachdem, wie viele Vorkenntnisse ich als Leserin habe, komme ich schneller oder langsamer voran. Die Darstellung der politischen und gesellschaftlichen Situation hat mich lange verwirrt. Mein Wissen um Belfast ist begrenzt, shame on me. Aber vielleicht ist der reale und historische Schauplatz auch gar nicht so wichtig, sondern es geht viel mehr um den Blick der Protagonistin darauf. Warum die Menschen sich verhalten, wie sie es tun, ist nicht relevant, denn sie kann es nicht ändern. Ein bisschen frustrierend vielleicht.
Mit Blick auf den Rahmenplot des Milchmanns finde ich aber auch die Protagonistin frustrierend. Sie, die im Grunde gegen viele Konventionen protestiert, bedient weibliche Klischees. Sie ist zurückhaltend, obwohl sie laut sein will. Niemals sagt sie, was sie denkt oder was sie sagen will. Zwischen ihrer Innenwelt und der Umwelt ist nicht nur eine Mauer, sondern eine regelrechte Sprachbarriere. Sie versteht und liest die Menschen und ihre Handlungen auf eine sehr reflektierende Weise, kann das aber bei sich selbst nicht und erwartet von allen anderen, sie dennoch zu verstehen.
Milchmann hat mich in einer grausamen Mischung aus Faszination und Widerwille zurückgelassen. Ich kann nicht sagen, dass mir das Buch gefallen hat, aber es ist dennoch sehr lesenswert. Der eigenwillige Stil und die hohe Subjektivität geben dem Buch etwas Wegweisendes und Einmaliges. Zurecht hat der Roman einige Preise gewonnen. Als unterhaltsame Lektüre kann er dennoch nicht bezeichnet werden.