Auch letzte Woche und diesen Montag saß ich wieder brav in der Einführungsvorlesung, um meinen Studenten im Tutorium später die Wichtigsten Dinge noch einmal erklären und erweitern zu können. Während letzte Woche Fiktion, Ästhetik, Poetik und Rhetorik im Mittelpunkt standen, war es diese Woche der Erzähler.
Fiktion – warum eigentlich?
Einleitend ging es um die Frage, warum der Mensch sich seine Welt eigentlich mit Geschichten füllt. Unwahre, phantastische, verwirrende Geschichten. Ein Ansatz von Sigmund Freud in Der Dichter und das Phantasieren (1907) erklärt die Dichtung, also das Erfinden von Geschichte, zum Spezialfall der Phantasietätigkeit, die jeder Mensch hat. Diese ist wichtig, um einen Schonraum für den Lusttrieb zu schaffen, den der Mensch permanent erfüllen will, aber aus Gründen der Gesellschaft, der Norm und des schlichten Vermögens, diese Dinge zu tun, nicht erfüllen kann. Im Schonraum Phantasie kann er aber ganz ungehemmt Lust-ig sein. Auch der Leser frönt also seinem Lusttrieb, wenn er liest. (Lesen IST also sexy!)
In der Vorlesung wurde hieran kritisiert, dass wir auch viele Beispiele kennen, in denen sicherlich niemand die vorgestellte Geschichte tatsächlich erleben will. Das finde ich etwas einfach gedacht, immerhin gibt es bei Freud nicht nur Lust, sondern auch Leid, Thanatos, den Todestrieb. Eine einfachere Version, die Fiktion als Freiraum gegenüber anderer Diskurse sieht, ist tatsächlich nicht ganz so einfach. Zuerst muss hier bedacht werden, dass Fiktion Inhalt der Literatur ist, die Literatur aber selbst nicht aus den Diskursen ausgeschlossen ist. Es gibt also ein Verhältnis zwischen Fiktion und Wirklichkeit, das Aristoteles Mimesis nannte. Fiktion wird von der Wirklichkeit beeinflusst (weil die wirklichen Autoren ja von ihr beeinfluss werden), beeinflusst selbst aber auch die Wirklichkeit, die Diskurse und liefert Denkanstöße, sie können aber nicht rein auf einen anderen Diskurs zugeschnitten werden.
Harry Potter erzählt die Geschichte eines Waisenjungens, aber auch die einer Heldengeschichte, die des Faschismus, die eines Mannes, der die Frau eines anderen geliebt hat, …
Ästhetisch ist nicht schön
Ein weiteres Merkmal von Literatur ist ihre Ästhetik. Wichtigster Punkt wenn es um ästhetische Literatur geht: der Begriff bezieht sich hier nicht auf Schönheit. Weder muss der Text kunstvoll verziert, noch in einer sauberen Handschrift verfasst sein. Ästhetik ist die „Wissenschaft der sinnlichen Wahrnehmung“. In der Literatur heißt das, dass die Form wichtiger als der Inhalt ist. Der Begriff beschreibt also hier, wertet aber nicht. Ästhetische Literatur muss nicht gut sein, eloquent oder hübsch. Auch ist die Ästhetik von der Fiktionalität losgelöst – natürlich können aber beide zusammen daher kommen.
Regeln der Poetik
Die Regelpoetiken sind so ein Punkt, den ich wirklich amüsant finde. Sie sind dazu da, um Autoren zu sagen, wie sie schreiben sollen. Die ersten Poetiken waren darum auch Dramenpoetiken. Aristoteles konzentrierte sich auf die Tragödie und setzte so den ersten Schritt. Er meinte, ein Stück müsse beim Zuschauer Affekte erregen, die er eleos (Jammern) und phobos (Schaudern) nannte. Das Ziel dabei ist die Kartharsis – die Reinigung. Neben vielen anderen Poetiken war es Lessing, der 1767 die Poetik des Aristoteles auflöste. Er schuf eine andere Poetik, dass lessingsche Drama, was wiederrum von Freytag aufgelöst wurde, dessen Poetik Brecht mit dem epischen Theater ablöste. Alle zielte eigentlich auf eine freiere Poetik vor. Mehr Möglichkeiten, tiefere Geschichte, bessere Stücke. Und keiner war den anderen irgendwann genug.
Rhetorik
Um rhetorische Mittel und Figuren kommt kein Germanistikstudent herum. Ich habe mir damals eine Tabelle angelegt und immer mal wieder neue Figuren eingetragen, mit Erklärungen und Beispielen. Davon zehre ich noch heute. Die Rhetorik ist die Lehre vom Sprechen und der Wirkung der Rede. Es geht darum, wie durch Einsatz von Sprache, Ziele erreicht werden können. Früher Teil der akademische Grundausbildung ist Rhetorik heute oft eine unangenehme Listen zum Auswendiglernen. Dabei nutzen wir sie alle täglich. Unterschieden wird in rhetorische Mittel und Tropen. Rhetorische Mittel sind besondere Wortstellungen, also eher die Grammatik des Textes. Hierzu gehört der Parallelismus, die Alliteration und die Ellipse. Tropen meint dann die uneigentliche Rede, Bilder, Figuren. Also auch Ironie, die Metapher und den Euphemismus.
Erzählt mir was
Noch schnell will ich zum Erzähler kommen, weil der elementarer Bestandteil der Sitzung diese Woche war. Eigentlich sollten die unterschiedlichen Erzähler gerade Literaturmenschen gut bekannt sein, trotzdem ist die Unterscheidung manchmal nicht einfach. Dass es auktoriale und personale Erzählform gibt und dann noch den Ich-Erzähler, sollte allen bekannt sein. Der Auktoriale Erzähler ist allwissend, kennt Gedanken und Gefühle und fasst sich selbst als ein Ich auf. Zeitsprünge, Referenzen auf die Vergangenheit und auch Vorwegnahmen aus der Zukunft sind kein Problem für ihn. Er kann „meine Meinung“ verwenden oder „Ich hätte ihm sagen können“. Teil der Geschichte ist er aber nicht, anders als der Ich-Erzähler, der manchmal doppelt vorkommt. Als erzählendes Ich und als erlebendes Ich.
Der personale Erzähler dagegen ist als Ich nicht zu fassen. Er steht außerhalb des Geschehens und beobachtet eine Figur, deren Gefühle und Gedanken er kennt. Nun gibt es durchaus Fälle, in denen die Eingrenzung nicht so einfach ist. Die Bücherdiebin wird vom Tod als Ich-Erzähler erzählt, der aber allwissend ist. Und gerade in personalen Erzählformen springt der Erzähler teilweise zwischen Figuren (und ist dadurch ansatzweise auch allwissend) – oder aber hier müsste von mehrere personalen Erzählern gesprochen werden. Die auktoriale Form ist übrigens stark im Rücklauf, schon seit Jahrzehnte, weil Allwissenheit nicht realistisch genug für die Leser ist.