Kristin Hannahs Die Nachtigall habe ich eigentlich gelesen, weil ich an der Bloggeraktion des Aufbau-Verlags zu Veröffentlichung teilnehmen wollte. Der Stoff erschien mir auf den ersten Blick als zur Genüge behandelt. Zweiter Weltkrieg, eine Familie, verschiedene Wege. Und auch wenn dieses Grundgerüst ein bekanntest ist, ist Die Nachtigall einmalig! Übersetzt wurden die 608 Seiten der deutschen Ausgabe von Karolina Fell. Erschienen ist Die Nachtigall beim Aufbau Verlagsprogramm Rütten und Loening frisch im September.
Vianne und Isabelle sind Schwestern.
Seit dem Tod der Mutter leben sie nicht mehr bei ihrem Vater und habe sich auseinandergelebt. Die ältere Vianne hat früh geheiratet und ist Mutter, die junge Isabelle dagegen läuft aus jeder Schule davon, in der ihr Vater sie steckt. Als sie schließlich bei ihm in Paris bleiben will, bricht der Zweite Weltkrieg aus. Viannes Ehemann wird eingezogen und Isabelle soll sich in dem kleinen Dorf, wo ihre Schwester lebt, von dem Kriegsgeschehen fernhalten. Doch wie Vianne nur das Wohlergehen ihrer Tochter im Sinn hat, will Isabelle Großes. Sie schließt sich der Resistance an und verurteilt Vianne, bei der ein deutscher Soldat einquartiert wurde. Aber auch Viannes geduldiges Warten kennt sein Ende und schließlich finden beide Schwestern eigene Wege im Kriegsschrecken für das zu kämpfen, was ihnen wichtig ist – und beide müssen Schreckliches erleiden.
Zwei Figuren – ein Rahmen
Eingebettet ist die Geschichte in die Rahmenhandlung Jahrzehnte nach den Erlebnissen des Krieges. In Amerika wird eine alte Frau von ihrem Sohn in eine Seniorenwohnung gebracht. Mit sich bringt sie die Erinnerung an einen Teil ihres Lebens, den er nicht kennt. Aufgeweckt wird diese durch einen Koffer, Bilder und nicht zuletzt die Einladung zu einer Ehrenveranstaltung in Paris. Einen Reiz des Romans macht es durchaus aus, zu rätseln, ob Vianne oder Isabelle diese gealterte Heldin ist. Aber auch das Ende des Romans, das sich in der Rahmenhandlung findet, birgt seinen Vorteil. Ein Ende, auf das gewartet werden musste, kein ganz gutes, aber auch kein schlechtes.
Die Etappen des Romans ziehen sich über den Kriegsanfang und die Besetzung Frankreichs bis zum Abzug der Nazis und der Heimkehr der in Deutschland Inhaftierten. Dabei entwickeln sich Isabelle und Vianne auf unterschiedliche Art und Weise und doch werden beide zu starken Frauen. Aktive Protagonistinnen, deren Persönlichkeiten dem Buch Leben geben. Isabelle, die impulsive, starke, spontane und eigenwillige Heldin, die sofort die Möglichkeit ergreift, ETWAS zu tun. Und Vianne, die Mutter, die vernünftige, überlegende Frau. Beide haben ihre Grenzen und Kräfte, ihre Waffen und Möglichkeiten. Beide stehen an verschiedenen Fronten der gleichen Seite.
Mädchen und Mutter
Während Isabelle dabei gerade zu Anfang das Mädchen symbolisiert, das sich im Laufe der Handlung zu einer starken Frau, Geliebten und Kämpferin entwickelt, ist Vianne „die Mutter“. Sie arbeitet für ihre Tochter und es ist diese Mütterlichkeit, die sie zuletzt zur Heldin des Romans macht. Denn wo Isabelle immer genau das sein wollte, ihren Kampfgeist also aus der Geschichte zieht, die eines Tages von ihr erzählt werden soll, ist es Vianne, die erzählen wird. Vianne, die eigentlich nur behütet sein wollte, die nur im Sinn hatte zu leben und leben zu lassen. Immer wieder opfert sie sich dabei so sehr auf, dass es fast unverständlich wirkt und doch realistisch. Sie stellt die Vernunft fast immer über ihre Gefühle, auch wenn sie dabei leiden muss.
Gleichzeitig zeichnet Die Nachtigall ein so breites Bild des zweiten Weltkrieges, dass es nicht immer ein für oder gegen ist. Freundliche Wehrmachtsoldaten und verräterische Franzosen sind glaubhafter Teil der Handlung. Ein Punkt, der mir sehr gut gefallen hat, denn gerade bei Kriegsgeschichte ist es doch leicht in Schwarz und Weiß zu unterteilen, statt in Grautönen. Dass Kristin Hannah aber genau das gelingt macht das Buch nicht nur einem beeindruckenden Entwicklungsroman zweier Schwestern, sondern auch zu einer grandiosen Geschichte über den zweiten Weltkrieg im besetzten Frankreich. Viele Details, historische wie örtliche Genauigkeiten verfeinern dieses Bild. Die komplexen Figuren und die kunstvoll aufgebaute Handlung machen Die Nachtigall schließlich zu einem Buch, das nur wärmstens zu empfehlen ist.
Auf die Leseliste
Denn der Roman beschönigt weder, noch verzerrt er. Eine markante Stelle schaffte es, mir am Bahnhof, das Buch in der Hand, Tränen in die Augen zu treiben – wirklich eine Seltenheit. Ein wunderbarer Stil vervollständigt diese Lektüre. Das Buch fesselt und liest sich flüssig. Fortlaufende Motive werden eingebunden. Immer wieder wichtig wird die Erinnerung neben der das Vergessen steht. Das Überleben neben dem Tod. Die Liebe neben der Angst vor Verlust. Eine bewegende Geschichte, die schleunigst auf eure Leseliste sollte.