Die 304 Seiten von Marcel Beyers Flughunde habe ich vor mir hergeschoben, so lange es die Uni erlaubte, auch wenn sie für Einmal durchs Regal zählen. Nun aber musste ich es doch lesen. Und selbst wenn mir der Inhalt immer noch Gänsehaut bereitet (warum zählt sowas nicht als Thriller? Das ist brutaler, schauriger und furchtbar realistisch) kann ich die guten Seiten des Buches nicht verschweigen.
Flughunde erzählt die Geschichte von Hermann Kranau, der tatsächlich Wachmann war, hier aber zum Sprach(en)wissenschaftler erhoben wird und Helga Goebbels (obgleich ihr Nachname nie fällt), parallel. Er fängt einige Jahre früher an, überspringt eine ganze Zeit und endet schließlich mit dem Tod der Goebbels-Kinder und dem Ende des Krieges. Die letzte Frage der Rekonstruktion des Kindermordes bleibt, der Unstimmigkeit in der Nachstellung und die Tatsache, dass furchtbare Schuld weder erklärt noch nachvollzogen werden kann. Wie genau, das bleibt offen. Warum überhaupt, auch das. Mittendrin aber experimentiert Kranau an Menschen herum, um die Ur-Stimme zu finden, der Stimme auf den Grund zu gehen, macht Menschen zu Tieren. Gerade ihn neben Helga zu stellen, die mit ihrem kindlichen Gemüt die Grauen des zweiten Weltkrieges weder erfassen noch verstehen kann, sich aber doch nicht ganz vor ihnen verstecken vermag, ist schrecklich wie grandios.
Beyer bleibt weg vom Geschehen, obgleich er es detailliert schildert. Aber vielleicht gerade dadurch, und durch die unschuldigen Augen Helgas, kann der Leser Abseits stehen und tatsächlich ist das Grauen nicht weniger schlimm, aber so distanziert betrachtbar, dass ich zumindest erleichtert war. Das Thema ist nun mal nicht leicht, ist wichtig aufzugreifen und gleichzeitig unsagbar schrecklich. Der Mord an den eigenen Kindern, den Helga früh erahnt, dem sie aber nicht entfliehen kann, das mehrmals versuchsweise analysierte Crescendo des Romans, ist mir als Mutter einer der schwersten Stellen des Buches.
Das Buch fokussiert Sprache und Geräusche auf eine Art, wie es für stille Seiten kaum möglich erscheint. Gleichzeitig springt es wie Filmszenen zwischen Kranau und Helga und erzeugt eine Art Dialog. Kranau wird später verfolgt von seinen Taten, wie auch vom Tod der Kinder, die er kannte.
Der Stil des Buches ist flüssig und leicht zu lesen, obwohl das Thema so schwer ist. Die Beschreibungen von Geräuschen und Bildern spielen mit der Phantasie des Lesers und seinem Wissen um den zweiten Weltkrieg. Das Grauen wird gezeigt, nicht nur geschrieben.
Multipliziert wird Beyers Arbeit in der Graphic Novel von Ulli Lust (364 Seiten), in der Farben und Klänge miteinander spielen und den Subtext noch deutlicher machen. Helgas Geschichte wird vom hellen Orange immer dunkler, die Experimente, der Krieg, sind giftgrün, Träume erlösend blau und das meiste einfach nur grau-braun. Klänge zeigen sich nun auch bildlich. Für alle, die Angst haben, im Roman selbst zu tief in das Grauen des Krieges tauchen zu müssen, ist die Graphic Novel die bessere Wahl, noch distanzierter durch den dritten Blick des Lesenden, keine Ich-Perspektive mehr, sondern Aufsicht.
Lust zeigt Momente, die Beyer verschweigt, zeigt die Mutter nicht nur als kränklich und abwesend, sondern auch als mit sich kämpfend, weinend. Gleichzeitig werden die Kinderspiele, die den Krieg wiedergeben, in den Bildern noch deutlicher, schrecklicher, verlieren die Unschuld. Metatext wird sichtbar, etwa wenn der Vater lügt und eine lange Nase bekommt, in den Farben und den Perspektiven. Helgas Gefangenschaft in ihrem Leben wird viel deutlicher, ihre unmögliche Situation, nicht ausbrechen zu können, das Ende zu ahnen und für ihre Geschwister die Wahrheit zu leugnen.
Es bleibt schwere Kost. Doch schwere Kost, die ihre Kreise zieht, die Auswirkungen hat und nicht schlecht war, sogar gut. Nochmal essen? Schwere Kost – ich zögere.