Protokoll #4 Literaturcamp Heidelberg: Die Mutterfigur

Mein erstes Barcamp, meine erste eigene „Session“. Nachdem die „Regel“: „Alle, die zum ersten Mal dabei sind, müssen vortragen“, ausgesprochen war, überlegte ich fieberhaft, was ich den erzählen könnte. Ein bisschen Schreibwerkstatt? Etwas über Dichterzusammen und das Herausgeben unserer Anthologie? Oder doch lieber nicht? Ich entschied mich, über das zu reden, womit ich im Grunde die ganze Zeit über beschäftigt bin: mein Dissertationsthema. Kurz fassen ist da schwierig.

Was ist eigentlich Germanistik?

Wir waren eine gemütliche Gruppe, den kleinen Knopf, der gerade keine Lust auf Kinderbetreuung hatte inbegriffen. Weil nicht alle Literaturwissenschaftlich bewandert waren, habe ich erst einmal erklärt, was die Germanistik, das Studium der deutschen Sprache umfasst. Aufgeteilt ist sie in Sprachwissenschaft und Literaturwissenschaft. Die Sprachwissenschaft ist unterteilt in Synchronie – aktuelle Grammatik, Sprachbedeutung, Morphologie der Sprache, Konversationsmaxime – und Diachronie – Geschichte und Entwicklung der Sprache, Aussprache. Auch die Literaturwissenschaft ist unterteilt in alt und neu. Die ältere Literaturwissenschaft dauert etwa bis zu Goethes Geburt. Danach kommt die neuere Literaturwissenschaft, die auch die Gegenwartsliteratur umfasst.

Und wie komme ich darauf?

Ich befasse mich mit der neueren deutschen Literaturwissenschaft. Mein Fokus auf die Mutterfigur ist dabei schon Jahre lang Teil meiner Forschung. 2012 habe ich meine Bachelor-Arbeit zur Mutterfigur bei Goethe geschrieben, 2014 dann die Master-Thesis zur Mutterfigur in Günter Grass‘ Blechtrommel. Auf der verzweifelten Suche nach einem geeigneten Thema für die Bachelor-Arbeit bin ich meine bisherigen Kurse durchgegangen. Beim Goethe-Seminar von Hannah Dingeldein dachte ich eigentlich, alles sei bereits abgegrast. Historisches, Motivisches, Männerbünde bearbeitete mein Kollege Sebastian Zilles in seiner Dissertation, zu den Frauen gab es Regalreihen voll. Und die Mütter sind doch langweilig, im Hintergrund, Idealfiguren. Da stutze ich dann, denn bei Goethe gibt es gerade das nicht: eine gesellschaftlich ideale Figur, die auch im Werk durchgesetzt wird. Aus reiner Neugierde suchte ich in der Bibliothek nach Goethe und der Mutterfigur und wurde hibbelig. Eine Lücke. Meine Lücke. Und wutsch hatte ich meine literaturwissenschaftliche Nische gefunden.

Historische Mutter

Die Mutterfigur ist tatsächlich oft Nebenfigur. Aber selten hat sie keine Auswirkungen. Selbst, wenn sie gar nicht auftritt, oder bereits gestorben ist, wirkt sie noch auf die Hauptfiguren. Meine Forschung zur Mutterfigur bei Goethe hat mir gezeigt, wie unerforscht die Mutterfigur ist, wie nebensächlich sie auch da behandelt wurde. Historische gesehen läuft die Mutter lange einfach mit, bis in der Aufklärung die Erziehung des Kindes als mütterliche Aufgabe wichtig wird. Stillen wird propagiert, um die Säuglingssterblichkeit zu senken. Elisabeth Badinter spricht von einer Erfindung der Mutterliebe. Da stimme ich nicht so ganz zu, immerhin hadern auch antike Heldinnen wie Medea bereits mit dem Konflikt zwischen Mutterliebe und „weiblicher“ Rache am untreuen Ehemann. Die Neuorientierung in der Aufklärung war im Grunde Schuld, dass die Brüder Grimm ihre Mütter zu Stiefmüttern machten, um die leibliche Mutter nicht so grausam darzustellen. Die Idealmutter wurde weiter verkitscht.

Die deutsche Mutter

Die Kleinfamilie der Industrialisierung, die frühe Frauenbewegung, der erste Weltkrieg. Alles hatte Auswirkungen auf die Mutterfigur, die Vorstellung der Gesellschaft, die literarische Randfigur. Extrem wurde es im Nationalsozialismus. Die Frau sollte als Kriegsdienst Kinder bekommen, die Mutter wurde extrem reglementiert. Gerade dieser Punkt hat auch heute noch große Auswirkungen auf die Vorstellung einer „guten Mutter“. Ein im dritten Reich beliebter Erziehungsratgeber wurde noch bis 1987 publiziert.

Und heute?

Die Bücher, die ich untersuche, sind in unterschiedliche Gruppen gegliedert. Es gibt die „Psycho-Gruppe“, in der die Mutter meist negative Auswirkungen auf das Kind hat, wie in Jelineks Klavierspielerin. Dann gibt es die fehlenden Mütter, wie bei Sebalds Austerlitz, in der die Suche nach der Mutter zum Mutterkomplex und zur Identitätssuche wird. In der Trivialliteratur steht die Mutter tatsächlich mal im Mittelpunkt, etwa bei Kerstin Gier und der Mütter Mafia. Schließlich gibt es noch die Erfahrungsberichte und Ratgeber, die sich teilweise überschneiden. Hier ist es erschreckend, wie konservativ die Mutter oft dargestellt wird. Die Mütter selbst verorten sich hier in der Hausarbeit, auf den Spielplätzen, neben dem Kind. Eine starke Mutter, bei der nicht das Muttersein im Vordergrund steht, sondern das „selbst sein“ und die nicht einen starken (möglichst gutaussehenden, reichen Mann) an ihrer Seite braucht, habe ich aber noch nicht gefunden.

Dankeschön

Es war toll so locker über mein Thema reden zu können. Mal wieder war ich erstaunt, wie schnell dieses Thema interessiert, wie schnell andere einen Zugang dazu finden. Ich habe tolle Anregungen bekommen und wir haben eine sehr interessante Diskussion geführt, die über den eigentlichen Vortrag hinaus ging. Vielen Dank dafür!

Empfohlene Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Consent Management Platform von Real Cookie Banner