Letztes Jahr ist bei dtv Die versteckten Briefe von Gina Ochsner erschienen. Wegen meiner Erkrankung bin ich nur langsam vorangekommen. Doch der Roman eignet sich auch gut für ein langsames und dafür genaues Lesen. Aber am Ball muss man bleiben, sonst verliert man sich zwischen den Zeilen. Danke an den Verlag für mein Rezensionsexemplar.
Inara erzählt ihrem Sohn die Familiengeschichte. Sie hat das dringende Bedürfnis, denn ihre Zeit neigt sich dem Ende zu. Dabei springt sie. Fängt bei ihrem Sohn und seinen großen Ohren an und geht dann doch zurück auf die Zeit, als sie selbst ein Kind war. Es ist ein vorsichtiges Herantasten, bei dem das Ungesagte viel Gewicht erhält und Inaras Monolog sich immer wieder um die Frage von Schuld und Scham dreht.
Lettland und Geschichte
Der Roman spielt in Lettland und trägt beschäftigt sich auch mit der Vergangenheit des Landes. Noch ehe Inara in ihrer Erzählung zu den Straflagern kommt, in die ihr Urgroßvater für den Besitz einer Bibel kam und ihr Großvater nach dem Krieg, zeigt sich in der Freundschaft zur jüdischen Nachbartochter der Schatten der Geschichte. Denn dieser Freundschaft ist so innig wie problematisch. Die Frage nach der Schuld wird hier thematisiert, nach der Suche nach einer Entschuldigung, die doch nie genug sein kann, wie es an einer Stelle in Die versteckten Briefe selbst heißt.
Dabei werden Schuld und Scham immer wieder neu bedient. Etwa durch den verzweifelten Onkel Maris, von dem Inaras Sohn den Namen hat, der den alten Groll noch verinnerlicht hat. Aber auch durch die späte, ungewöhnliche Hassliebe zwischen den Vätern. Dabei ist gerade diese Aufarbeitung auch Bestandteil der Identität des Sohnes, der am Ende ein erwachsener Mann sein wird. Denn sowohl sein biologischer wie auch sein Ziehvater sind Juden.
Familie und Geheimnis
Gleichzeitig werden die immensen Ungerechtigkeiten thematisiert unter der die arme Bevölkerung zu leiden hat, genauso wie der Druck auf den Kindern, es eines Tages besser zu machen als die Eltern. Im Hintergrund baut sich das eigentliche Familiengeheimnis auf, vermittelt durch die Briefe von Inaras Großeltern. Diesem Geheimnis nähert sich der Roman immer nur an, im letzten Moment macht er, wie auch die Figuren im Buch, einen Rückzieher. Klar wird es dem Leser dennoch. Und durch die bleibende Lücke nur umso heftiger.
Die versteckten Briefe ist kein einfaches Buch. Beim Lesen verzettelt man sich, sieht Abgründe, Lasten und muss sich mehr als einmal wieder zeitlich orientieren. Inara bleibt eine unzuverlässige Erzählerin, die mehr weiß, als ihr klar ist. Auf den Adressaten ihrer Erzählung, Maris, trifft der Leser nur als Figur in ihrer Geschichte, nicht als eigenständigen Charakter. Der Roman bleibt ein Mosaik-Bild, bei dem einzelne Steine fehlen, fehlen sollen.
Er greift beim Lesen langsam, aber unerbittlich. Ich konnte schnell nicht von der Geschichte lassen, die ohne großen Helden auskommt. Seite für Seite leidet man mit Inara, wirft einen Blick in eine Welt, die unserer so nah und doch so fern ist. Definitiv kein Buch für zwischendurch und eines, in das man sich erst einfinden muss. Wem das gelingt, wird mit einer eindrucksvollen Geschichte belohnt.