Das Verschwinden der Frauen – Mara Hvistendahl

Ein Titel, der mich sofort in seinen Bann gezogen hatte war Mara Hvistendahls Das Verschwinden der Frauen – Selektive Geburtenkontrolle und die Folgen, erschienen 2013 mit 424 Seiten bei dtv.

Mara Hvistendahl hat jahrelang in China gelebt und dabei gesehen, wie Mädchen immer seltener in den Klassenzimmern zu sehen sind. Sie hat sich gefragt, warum das so ist und sich auf die Suche nach den verschwundenen Frauen gemacht. Was sie dabei herausgefunden hat, ist erschreckend und bedenklich. In Gesprächen mit Ärzten, Wissenschaftlern, Eltern und Beamten fasst sie zusammen, warum und wie bereits ungeborene aufgrund ihres Geschlechts selektiert werden und was das für Folgen für uns alle hat.

Dass diese Betrachtung sich in erster Linie auf Indien und China erstreckt ist dabei ein Aufrollen von der großen Masse her, denn Waisenhäuser voller chinesischer Mädchen haben es bereits vor Jahren in eine Simpsons Folge geschafft und auch das Leid indischer Mädchen wurde schon medial aufbereitet. Hvistendahl geht aber mehrere Schritte weiter. Im Gespräch mit einem indischen Arzt, der von seinen Erfahrungen berichtet, und anhand von historischen wie statistischen Werten offenbart die Autorin dass die westlichen Einflüsse erst den Ausschlag für die Benachteiligung der Mädchen im Mutterleib gegeben haben – unter dem Schlagwort Bevölkerungskontrolle.

Ähnliches führt sie für China argumentativ auf, wo die Ein-Kind-Politik die Präferenz für Söhne ausgelöst hat. Wenn schon nur ein Kind, dann auch ein Junge, der hier wie dort bevorzugt behandelt wird, mitunter religiöse Aufgaben erfüllen kann und von der Gesellschaft aus schon als geradezu notwendig erachtet wird. Anlass zur Besorgnis gibt für Hvistendahl der statistische Wert, der anzeigt, wie viele Jungs pro 100 Mädchen geboren werden. Mancherorts, so sagt die Autorin, ist das Verhältnis bei über 150/100.

Aber nicht nur in China und Indien sieht das Geschlechterverhältnis bedenklich aus. Auch in Taiwan, Südkorea und Albanien ist das natürliche Verhältnis aus den Fugen geraten. Verkaufte Bräute, Kinderheiraten, Entführungen, Menschenhandel sind die Folge, so Hvistendahl. Und all das verschärft das Problem , weitete es aus und führt es auch in andere Regionen. Ob Vergewaltigungen auch dazu gehören mag im Augen des Betrachters legen.

Erschreckend, war ich doch der Meinung, dass Frauen per se keine Minderheit sind. Nun wird hier aufgezeigt, dass sie künstlich dazu gemacht werden, indem Mädchen noch im achten Monat abgetrieben werden, teilweise unter Zwang von der Regierung her, großenteils aber aus freien Stücken der Mutter, nur weil sie das falsche Geschlecht haben. Den großen Westen lässt Hvistendahl dabei aber weitgehend aus.

Allein im letzten Kapitel behandelt die Autorin eine Reproduktion Klinik in Amerika, wo die betuchte Klientel vor allem kleine Mädchen haben will, die dann auch klein und mädchenhaft zu sein haben. Was fehlt, um diese Idee der umgekehrten Selektion (die bereits bei der Zeugung beginnt) glaubhaft zu machen, ist das Geschlechterverhältnis bei der Geburt in Amerika und etwaige Gründe. Dieses Kapitel steht ziemlich in der Luft und bleibt so ein unvollständiger Abschluss des Buches. Auch die Frage, warum gerade in westlichen Ländern, in denen durchaus auch geschlechterspezifische Bevorzugungen existieren (Glückwünsche beim „Stammhalter“ kommen nicht von ungefähr), die Form der Abtreibung als Selektion – die mit Sicherheit auch hier stattfindet – weniger oder eben nicht ins Gewicht fällt, bleibt unbeantwortet, wird nicht mal gestellt und ist damit eine große Leerstelle.

Ein aufrüttelndes Buch, dass aber als „westliches“ Sachbuch gerade keine Punkte der westlichen Welt betrifft, sondern das fremdartige „andere“ als besorgniserregenden Zustand brandmarkt, an dem wohl der Westen seine Mitschuld hat, der aber so weit weg ist, dass er mitunter als „das geht mich doch nichts an“ abgetan wird. Schade, dabei hätte das Buch tatsächlich aufrütteln und aufmerksam machen köchen.

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