Noch vom letzten Jahr lag auf meinem SuB das Rezensionsexemplar von Anja Jonuleits Das Nachtfräuleinspiel, erschienen bei dtv. Der Stapel Bücher, der durch die Hyperemesis liegen geblieben ist, schrumpft damit einmal mehr und ich kann das Buch der deutschen Autorin für #WirlesenFrauen verbuchen. Interessiert hat mich von Anfang an, dass es im Roman um Mütter und Mutterschaftsvorstellungen geht, also genau mein Thema.
Liane arbeitet Ende der sechziger Jahre in einem Kindergarten, als sie in ihrer Mittagspause einen Medizinstudenten sieht. Sie weiß, ihn will sie haben und sie setzt in den folgenden Wochen alles daran, ihn auch zu bekommen. Das ist gar nicht so einfach, den Carl lebt in einer Kommune und hält von festen Bindungen nicht unbedingt viel. Liane muss alle Register ziehen. Jahre später ist sie mit Carl verheiratet, hat fünf Kinder und ist Kindertherapeutin. Da nimmt sie die siebzehnjährige Annamaria auf, unehelich schwanger und selbst ohne Eltern. Die glaubt, ein Traum wird wahr, immerhin darf sie bei DER Vorzeigefamilie schlechthin leben. Oder ist auch bei Liane alles gar nicht so rosig? In der Gegenwart blickt Liane auf ein erfolgreiches Leben zurück und ist noch längst nicht fertig damit. Doch irgendwer scheint es auf sie abgesehen zu haben und all ihre Tricks zu kennen.
Extreme
Liane und Annamaria also, zwei junge Frauen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Vom ersten Wort an ist Liane berechnend und überheblich. Mit einer unerschütterlichen Selbstbehauptung geht sie durchs Leben und legitimiert jede ihrer Taten. Sie hat ein reines Gewissen. Ob in der Kommune, die sie von innen unterwandert, mit Annamaria, die sie vom Opfer zur Täterin werden lässt oder in Bezug auf ihre Kinder. Sie ist keine Figur, die ich beim Lesen an irgendeiner Stelle liebgewonnen konnte. Ihre Ausfluchte sind auch schon mal abgedroschen. Sie habe ihre Kinder ja nie geschlagen, wiederholt sie gerne und ich glaube, das sagt schon alles. Nicht nur Schläge können verletzten.
Annamaria dagegen ist fast schon zu naiv. Ihre Mutter wurde erst vom Mann verlassen und ist dann gestorben, die Pflegemutter versäuft das Pflegegeld. Durch eine heimliche Liaison wird das Mädchen, das gerade Abitur macht schwanger. Als wäre das nicht genug, wird sie auch noch vergewaltigt. Als sie zu Lianes Familie darf, ist das mehr als nur ein zarter Lichtblick am Horizont, es scheint die bloße Rettung. Und lange Zeit tut diese Übereinkunft Annamaria auch wirklich gut. Sie liebt Lianes Kinder und kümmert sich gerne um sie, auch wenn sie nach und nach mit Lianes Methoden nicht einer Meinung ist. Sie vergöttert ihre eigene Tochter, wird selbstsicherer, reflektierter. Dann kommt sie hinter die grausame Wahrheit.
Gewalt
Die beiden Protagonistinnen sind nicht nur vom ersten Moment an zutiefst unterschiedlich. Sie bleiben es auch. Während Liane offensichtlich Narzisstin ist, ist Annamaria in ihrer Opferrolle gefangen. Die Gegensätze sind mir persönlich zu offensichtlich. Es bleibt wenig Spielraum, beim Lesen zu rätseln und zu reflektieren. Allein Lianes Überzeugung, stets das Richtige zu tun, lässt sie dominant bleiben, auch als bereits alles um sie herum bröckelt. Nein, warm wurde ich mit den beiden wirklich nicht, auch wenn ihre Geschichte durchaus lesenswert ist.
Im Kern geht es dabei gar nicht so sehr, um die verschiedenen Kräfte, die Mutterschaft bestimmen, sondern um die Methoden, die aufgezeigt werden. Fast möchte ich behaupten, die werden nahezu alles verteufelt. Indem Annamaria gar keine Zeit hat, sich in ihrer Mutterrolle zu festigen, steht die Übermutter Liane im Zentrum, beharrt auf ihren Strategien, von denen beim Lesen eine schrecklicher als die andere erscheint. Extreme statt ein zu suchendes Gleichgewicht. Manipulation in jedem Aspekt. Ich hätte mir durchaus gewünscht, dass auch an Liane ein gutes Haar gelassen wird. Nicht, weil sie es verdient, sondern weil das beiden Figuren mehr Tiefgang und der ganzen Geschichte ein runderes Konzept verpasst hätte.
Leerstellen
Gleichzeitig fehlen mir die Konsequenzen, zumindest für die offensichtlichen Straftaten, die begangen werden. Annamarias Vergewaltiger wird enttarnt, doch selbst für sie bleibt seine Tat gegenüber Lianes nebensächlich und so gerät das komplett in Vergessenheit. Auch die vielen Details und Mechanismen, die die geheimnisvolle Person kennen und in Gang setzten muss, um Lianes Leben am Ende nach und nach zu zerlegen, bleiben Leerstellen. Nur das Wissen um ihre gesammelten Taten zu haben, reicht nicht, um derart effektiv agieren zu können. Eine eindeutige Lücke, mit der ich immer noch nicht zufrieden bin.
Das Nachtfräuleinspiel ist ein interessantes Buch mit allerlei psychologischen Feinheiten. Rund geworden ist es am Ende für mich nicht, auch die beiden Frauenfiguren im Zentrum sind mir zu eindimensional. Außerdem fehlt der Hinweis, dass im Buch (psychische) Gewalt und Vergewaltigung auftauchen. Im Ganzen lesenswert finde ich es aber durchaus, da viele Erziehungsstrukturen und Selbstlügen aufgezeigt und auseinandergenommen werden.