Juli Zehs neuer Roman Unterleuten stand ganz oben auf meiner Wunschliste. 640 Seiten geballtes Dorfleben, erschienen bei Luchterhand.
In Unterleute, einem kleinen Dorf im Osten Deutschlands, soll eine Windkraftanlage gebaut werden. Dass die Anwohner das durchweg weniger gut finden, interessiert den Staat herzlich wenig. Und insgeheim sind durchaus einige der Dorfbewohner bereit, ihr Land anzubieten, denn natürlich lockt auch dafür das Geld. Die große Frage, wo die Räder stehen sollen, löst ungeahnte Machtkämpfe und Intrigen aus und führt zu Wunden der Vergangenheit. Die neu Zugezogenen etwa, die Vögel und Pferde schützen wollen, oder der Dorfteufel, der sowieso an allem Schuld ist, selbst der Bürgermeister bleibt nicht unparteiisch im Wirrwarr, dem klassischen Kampf gegen Windmühlen.
In Unterleuten ist man Unter Leuten. So viel zum Wortwitz. Auf den ersten Blick sind diese Leute vielfältig. Neu Zugezogene aus der Großstadt, die im Kampf mit den Alteingesessenen bereit von vorne herein verloren haben, der ewig wiedergewählte Bürgermeister, der komische Kauz, der Großgrundbesitzer und ihre Anhänger. Und dann ist da noch die Pferdeflüsterin, die in allen Menschen doch auch nur Pferde sieht. Und Macht heißt, zu bewegen. Also bewegt sie.
Wer hier tatsächlich wen beweg und in welche Richtung ist ausschlaggebend, um hinter die Fassade zu blicken. Mehrere personale Erzähler kommen hier zusammen, begleiten stets eine der Figuren. Dass tatsächlich ein Ich-Erzähler dahinter steckt – ein netter Trick, denn Zeh beispielsweise schon in Spieltrieb angewandt hat – erkennt der Leser erst zum Ende. Dann kommt die Zusammenfassung, ein bisschen Jura, ein trockenes Ende, die Distanz zur Geschichte und den Figuren, die nach dem grausigen und extremen Höhepunkt auch bitter nötig ist.
Unterleuten zieht in den Bann. Das Dorf seine Bewohner, das Buch seine Leser. Es zeichnet das Große im Kleinen wieder, die Welt ist ein Dorf und dieses Dorf heißt Unterleuten. Nichts mehr und nicht weniger. So gekonnt ist dieses Bild, so ausführlich, realistisch, unnachgiebig, dass jeder sich irgendwo wiederfinden kann. Tatsächlich schafft Zeh es, den Dorfverrückten vernünftig zu zeigen, den Dorfteufel als verdrehten Mephisto, der Gutes will und Böses tut. Gerade so viel Verständnis, so viel Nähe, erlaubt die Geschichte, dass der Sprung zum Mitleid mit einem Mann, der Frau und Kind schlägt, ein kurzer wäre. Den letzten Schritt verweigert der personale Erzähler trotzdem, gerade weil er wertungsfrei bleibt.
Diese große Stärke des zehschen Stils ist ihren Lesern bekannt und triumphiert auch hier. Unterleuten gewährt einen geradezu erschreckenden und einnehmenden Einblick in Gesellschaft per se, führt den Leser in die Enge, die eigene Dynamik des dörfischen Lebens und klammert so paradoxerweise das Außen aus, zu dem er gehört. Ein mitreisender, ein großartiger und bewegender Roman, der Mensch und Gesellschaft auf eine einmalige Art und Weise zeigt, das Böse im Kleinen, das Richtige im Aufgeben, die Hoffnung im Ende. Jeder sollte dieses Buch gelesen haben.