Bei DVA entdeckt habe ich den 80 Seiten kurzen Essay Über Literaturkritik von Marcel Reich-Ranicki entdeckt (erschienen so 2002) und konnte nicht widerstehen. Das Thema beschäftigt mich als Bloggerin, Rezensentin (vielleicht auch als Kritikerin) und natürlich als Literaturwissenschaftlerin beständig.
Reich-Ranicki geht systematisch vor und der Kritik dabei auf den Grund. Er beginnt bei den von ihm aufgezeigten Anfängen der Kritik in Deutschland und zitiert dabei einen französischen Aufsatz, der die Deutschen ganz schön schlecht wegkommen lässt. Die Unfähigkeit der Deutschen zur Kritik und auch die große Gegenwehr der deutschen Autoren wird dabei durch verschiedene Beispiele und Zitate belegt. Reich-Ranicki ist dabei aber nicht dogmatisch, sondern lässt Raum und wägt das für und wieder ab.
Dadurch wird der Essay zu einem interessanten, aber nicht rein wissenschaftlichen Werk. Vielmehr ist er für ein breiteres Publikum zugänglich, verständlich und mit Beispielen und einem klaren roten Faden durchaus gelungen. Dass er dabei vor allem in der Geschichte bleibt und lediglich zuletzt, in Bezug zu seinen eigenen Erfahrungen als Autor in die Gegenwart rutscht, mag dem Anspruch des Textes zu verschulden sein, lässt den Text aber etwas historisch wirken und die Frage nach der „aktuellen“ Position der Kritik bleibt.
Gleichzeitig zeigt sich hier der größte Raum des Essays, denn indem Reich-Ranicki zugibt, als Autor ebenso hart an Kritik kauen zu haben, wie alle, die er im Laufe der Zeit kritisiert hat, öffnet sich der Text der Gefühlsebene, die bei wissenschaftlichen Texten oft kurz kommt. Die eigene Verbindung und die Selbstwahrnehmung durch das eigene Werk machen Kritik, auch konstruktive, schwer anzunehmen, die Kritik selbst aber nicht weniger berechtigt.
Erstaunlich flüssig und angenehm zu lesen, wissensreich, aber nicht belehrend, ein durchweg gelungener Essay, der zurecht aus einem Buch von 1970 herausgesucht wurde. Wer sich mehr mit Literaturkritik auseinandersetzen möchte und auch ihren Wurzeln auf den Grund gehen will, ist hier genau richtig.