Launen der Zeit – Anne Tyler

Bei Kein & Aber ist dieses Jahr der nachdenkliche Roman Launen der Zeit von Anne Tyler in der Übersetzung von Michaela Grabinger erschienen. Die Geschichte einer Frau, die sich neu finden muss hat 303 Seiten.

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Willa heißt die Protagonistin, die weniger handelt, als in die Handlung eingewoben ist. Der Roman begleitet sie vom Kind zur Mutter zur Witwe zur Frau. Schon als Mädchen ist sie verzweifelt auf der Suche nach Bestätigung, die sie glaubt dann zu finden, wenn sie es recht macht und im Schatten bleibt. Ihre Mutter nämlich bricht immer wieder heraus, rennt vor der Kleinstadtidylle davon, ein oder zwei Tage lang. Der Vater duldet, bleibt ruhig. Es brodelt, aber der Konflikt selbst bricht nicht heraus. So brodelt es auch in Willa und sie verbietet den Ausbruch.

Charakter?

Den Eltern gegenüber genauso wie dem Mann, der ihr einen Antrag macht. Mehr aus Trotz und der Hoffnung auf eine Freiheit folgt sie ihm, der sie vom ersten Tag an bestimmt. Willa orientiert sich abermals nach einem anderen, später nach ihrem zweiten Mann. Der Roman beginnt 1967 und die zeitliche Komponente darf bei dieser zurückhaltenden Frauenfigur nicht außer Acht gelassen werden. Trotzdem wirkt sie schnell fade, versteckt hinter all den Zuschreibungen ihrer Mitmenschen.

Dieses Konstrukt bröckelt erst, als Willa aus einem Fehler heraus zur Hilfe gerufen wird. Eine Ex-Freundin ihres Sohnes, alleinerziehende Mutter, wurde angeschossen und jemand muss sich um das Mädchen kümmern. In der Gegenwart angekommen bricht Willa aus ihrem Spießbürgertum im Schatten in das Leben einer Mutter und eines Mädchens, die gar nicht wissen, was sie brauchen. Es entsteht eine kuriose Einheit aus den drei Frauen, bei denen nicht nur Willas Mann stört.

Dieser letzte Teil ist das eigentlich Interessante an Launen der Zeit. Nicht nur, weil Willa endlich Persönlichkeit findet, sondern auch weil er von dem Vorteil mehrerer Generationen, die zusammenleben, erzählt. Von einer Wahlverwandtschaft, die dicker als Blut ist. Das große Geheimnis ist dann auch kein alles verändernder Spannungspunkt, sondern wird eingewoben. Wie Willa. Am Ende steht für mich eher die Frage, ob tatsächlich eine Freiheit winkt oder nur die nächste Zuschreibung, die nächste Aufgabe, die nächste Konfliktlosigkeit, in die sie sich hineinmanövriert.

Eine Figur auf der Suche nach Farbe: Launen der Zeit von Anne Tyler
Wirklich der Weg zum ICH?

Gerader die erste Hälfte des Romans ist darum auch sehr langgezogen. Weder zu Willa, noch zu sonst einer Figur kommt Sympathie auf. Im Gegenteil. Schon als Kind ist Willa farblos, eine starke Distanz besteht, die nur stärker wird, als Willa erwachsen ist. Ja, sie teilt das Schicksal vieler Frauen ihrer Zeit, die sich dem Ideal der Gesellschaft anpassen wollen, als Protagonistin aber fehlt es ihr vor allem an Persönlichkeit. Wer ist eigentlich Willa fragt man sich bis der Roman in der Gegenwart ankommt und Willa als vermeintliche Großmutter eine vierte Chance zum ICH bekommt.

Auch hier scheint es, als würde Willa sich ihrer Umgebung anpassen und nicht etwa zu sich selbst finden. Vielleicht ist das die Frage hinter allem. Ob es dieses Ich überhaupt gibt, immerhin sind wir alle durch unser Umfeld geprägt. Doch es macht Launen der Zeit zu einem launenhaften Buch, das nicht durch Spannung oder einen mitreißenden Handlungsstrang dominiert, sondern durch das Wechselhafte. Ein interessantes Buch, auf jeden Fall, vielleicht auch ein wichtiges, weil es wie wenige zusammenfasst, was Frausein lange bedeutet und die Frage nach dem Heute auftut. Fesseln aber kann Launen der Zeit nicht durch Handlung oder Figure, eher durch die Komposition, die Willas Farblosigkeit immer wieder einbettet und sie doch zur Heldin werden lässt.

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