Heute ist der dritte Advent. Drei Kerzen brennen am selbstgebundenen Adventskranz mit den lila Kügelchen und silbernen Bändern. Die Zweige stammen aus Großmutters Garten, nicht alle, ein paar sind dazu gekauft, um Variation hineinzubringen, nicht nur Blautanne, und Efeu, Buchsbaum von Mutter. Alles zusammengesteckt, zusammengebunden, als hätte der Wald die Zweige eigens miteinander verrankt.
Und sie halten durch, obwohl der Junge immer wieder Nadeln abzupft und, wenn Mutter nichts bemerkt, die Nädelchen in eine der drei Flammen hält. Es dauert einen Moment, einen Augenblick der Unversehrtheit, dann brechen die Pflanzenzellen und feuriges Öl tritt aus, entflammt, nur kurz, ein Schauspiel. Gebannt starrt er auf die Nadeln in seinen Fingern, kommt nicht umhin zusammen zu zucken, wenn sie Feuer fangen, Miniaturstichflammen in seinen Händen. Er weiß, er soll nicht, er darf nicht, doch er will dennoch, vielleicht gerade deswegen umso mehr. Wie schön die Nadeln sind, wie magisch ihre kurze Unversehrtheit, wie plötzlich dann, immer unerwartet, der Ausbruch des Öls, das Aufflammen und Abbrennen. Und wie schnell die Nadel erlischt, sobald er sich bewegt. Und der Duft von abgebranntem Nadelöl. Wie Wald und Feuer, winterlich und bedrohlich. Er ist fasziniert.
Und im Hinterkopf wächst die Fähigkeit, die Mutter kommen zu spüren, selbst wenn sie lautlos ist. Er fühlt die wachsende Nähe, den Blick, der sich gleich auf ihn richten wird. Und sobald er die Nadel fallen lässt, erlischt sie, kein bleibendes Indiz auf seinen Ungehorsam. Nur der flüchtige Geruch. Ob sie es weiß, ob sie es riecht, ob sie es ahnt? Er lächelt sie an und sie lächelt zurück. Verbirgt sich hinter dem Blick die drohende Strafe, die er verdient hat, doch die Neugierde war stärker, ist immer stärker, selbst wenn sie sich jetzt gleich wieder umdrehte, könnte er nicht widerstehen. Doch sie lächelt. Verbirgt sich hinter dem Lächeln bereits der Tadel? Sein Lächeln erstirbt und reumütig kommt er heran, verbirgt den Kopf an ihrem Bein und will den Geruch verdrängen, der sich in seine Nase, in sein Gedächtnis gebrannt hat. Doch er mischt sich mit dem Duft der Mutter nach Vertrautheit und Schutz, befleckt die Nähe, verbrannte Mutter. Dichter rückt er heran, will dem entkommen, was er nicht benennen kann, was die Mutter kennt, als schlechtes Gewissen. Er drückt und wagt nicht, den Blick zu heben, denn sie muss es wissen. Sie weiß es. Und sie hebt ihn hoch, dass er ihr in die Augen schauen muss, und er schämt sich für die Scham. Kein Wort fällt, wäre ohnehin überflüssig, nur ihr Blick, der alles sagt und seine Reue.
Die drei Kerzen brennen noch und die Mutter setzt ihn vor den Kranz, sammelt die abgebrannten Nadeln ein, trägt sie fort in die Küche. Er sieht sich der Versuchung gegenüber, dem Unwiderstehlichen. Noch die Scham im Nacken, will er nach einer Nadel greifen. Er atmet ein und aus und zwischen den Resten des verbannten Öls kann er die Mutter riechen und er hält inne. Sie würde die Kerzen löschen, wenn er es noch einmal macht, das weiß er. Keine Kerzen, kein Licht, keine Versuchung mehr. Doch die Versuchung gerade ist das Unwiderstehliche. Er zögert. Hat schon eine Nadel in der Hand und zögert doch noch. Kein Licht, keine Versuchung, keine Wärme, weil die Mutter böse würde, fern ihm bliebe dabei und er wäre allein, ohne Licht, Versuchung und Wärme. Wenn nun die Kerzen nicht wieder angezündet würden, die Nadeln alle weg wären und die Mutter ihm nicht mehr verzeihen würde. Ginge das überhaupt? Er zögert und spiel mit der Nadel in seinen Händen, bis sie zerknickt, der ölige Saft tritt aus, auf seine Finger und erstaunt riecht er, ohne Rauch, den heilen Duft.
„Mama, riech mal“, ruft er und läuft ihr entgegen, die die ganze Zeit in der Küchentür stand und wartete, während die drei Kerzen brennen.