Als ich entdeckt habe, dass ein Buch erscheint, dass sich mit Bisexualität beschäftigt, war ich sehr aufgeregt. Das Buch passt nicht nur zu #DiverserLesen, ich wollte vor allem für mich selbst mehr zum Thema Bisexualität erfahren. Ich war gespannt, wie Julia Shaw, die selbst bisexuell ist, das Thema angeht, ob sie Bisexualität als sogenannten umbrellaterm, also Überbegriff nutzt, und wie sie dann mit anderen multisexuellen Ausprägungen umgeht. Mein Leseexemplar von Bi hab ich digital vom Hanser Verlag bekommen, vielen Dank dafür.
Mehr als nur „bi“
Bereits am Anfang des Buches wurde meine erste Frage beantwortet. Ja, die Autorin fasst Bisexualität als Überbegriff auf. Das ist sehr verbreitet, aber auch kritikwürdig, denn „bisexuell“ ist eine spezielle Ausrichtung im Bereich Multisexualität, in der es auch andere gibt. Wenn Bisexuell ohne Abgrenzung als Überbegriff genutzt wird und andere Sexualitäten gar nicht erst genannt, macht sie das unsichtbar. Julia Shaw nennt war manche Begriffe, zum Beispiel Pansexualität, aber nur sehr knapp. In weiten Teilen des Buches wird Bisexualität für pansexuelle oder omnisexuelle Menschen genutzt, ohne dass hier auf die Unterschiede eingegangen wird.
Das verfälscht zum einen, was „bisexuell“ tatsächlich meint, zum anderen kehrt es andere Sexualitäten unter den Teppich. Das fand ich sehr schade. Gerade wenn „Bi“ als Überbegriff verwendet wird, finde ich einen Abschnitt, der die verschiedenen Ausprägungen darunter verwendet, sehr wichtig. Genauso wie er wichtig ist, wenn „Bi“ als Abgrenzung zu „Pan“, „Omni“ oder anderen Teilen des multisexuellen Spektrums genutzt wird. Gerade von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus, hatte ich mir mehr erhofft als „wir nutzen bisexuell, weil der Begriff schon so lange da ist“.
„Bi“-Geschichte und mehr
Julia Shaw geht auf den wissenschaftlich-historischen Blick auf Bisexualität ein. (Auch das ist im Übrigen kein Argument gegen meinen ersten Kritikpunkt, im Gegenteil hätte man das multisexuelle Spektrum gerade mit einem modernen Blick genauer ansehen müssen.) Dabei startet sie bei den ersten Forschungen zu Sexualität und sexuellem Verhalten in England, Studien aus der ersten Hälfte des 20ten Jahrhunderts. Das ist insofern nicht verkehrt, da es für viele sexuelle Orientierungen und Identitäten vorher eben keinen Namen gab. Sie haben aber durchaus existiert.
In vielen dieser frühen Studien existiert der Begriff „bisexuell“ noch gar nicht, stattdessen wird nur zwischen hetero- und homosexuell unterschieden. Wie nah hier die Notwendigkeit, Dingen einen Namen zu geben, um historisch und wissenschaftlich wahrgenommen zu werden und die Ausgrenzung von Menschen durch diese Labels, genauso wie die Behauptung, Zustände würden erst mit Benennung der Labels existierten liegen, wird schnell klar. Die Grenze zwischen Akzeptanz, die keinen Namen für „normal“ benötigt und fehlender Sichtbarkeit, weil dadurch „normal“ an eine falsche Vorstellung geknüpft wird, ist im Buch sehr präsent. Mit anderen Worten: „Queer was always here!“ Queere Menschen gab es bereits lange, bevor jemand einen Namen dafür erfand oder behauptete, sie würden nicht in die Norm fallen.
Wir waren immer hier
Die Autorin nimmt Leser*innen mit auf einen historischen Abriss, der sehr britisch-zentriert ist, kein Wunder, sie ist selbst Britin. Wir erfahren die Ursprünge des Christopher Street Days und wie unterschiedliche queere Gemeinschaften miteinander verknüpft sind. Viele Begriffe bleiben dabei schwammig (wie bereits genannt). Für mich wurde vor allem deutlich, wie lange der queere Kampf schon dauert, wie nachhaltig unsere Geschichte wieder und wieder verwaschen wurde und wie wichtig es für Menschen ist, diese Tatsachen zu erfahren. Um sich selbst besser zu erfahren, aber auch, um die eigene Vorstellung von „Norm“ aufbrechen zu können.
Leider ist es nicht nur der Blick, der das multisexuelle Spektrum auf Bisexualität reduziert, der mich gestört hat. Julia Shaw geht noch einen Schritt weiter – sie benennt Menschen als bisexuell, die das selbst nicht getan haben. Solche Zuschreibungen halten ich für sehr gefährlich. Kann es sein, dass Menschen, die erst heterosexuelle und dann homosexuelle Beziehungen (oder andersherum) geführt haben, bi (oder pan, oder omni, oder …) sind? Ja, ohne Frage. Aber niemand hat das recht zu behaupten, sie sind es ganz eindeutig, weil sie diese Art von Beziehungen geführt haben.
Problematisch
Identität und Interessen, Sexualität und Romantik sind auf lange Sicht stets immer im Wandel, manchmal überschreitet dieser Wandel nicht die Grenze zwischen einem Label zum anderen, und selbst wenn entscheidet immer noch die Person selbst, welchem Label sie angehört. Aus einem queeren Blickwinkel, aber erst recht aus einem wissenschaftlichen maßt die Autorin sich hier ein Recht an, um ihre These zu stützen, die übergriffig ist. Leider passiert genau das in „Bi“ mehrmals. So finde ich zwar die historischen Fakten immer noch hochinteressant, aber die Art und Weise, wie Shaw sie präsentiert sehr problematisch.
Ebenfalls schwierig fand ich, dass die Verbindungen von marginalisierten Räumen zu kurz kommt. Gerade in so einem Buch, das queere Geschichte beinhaltet, wäre es ein Leichtes, die Kämpfe von schwarzen (queeren) Menschen oder die Problematik des Ableismus, die Kritik an Klassizismus und den großen Effekt des Kolonialismus auf unser Verständnis von Gender und Sexualität aufzuzeigen. Leider passiert das nur ansatzweise bzw. in manchen Bereichen auch gar nicht. Die Stonewall riots beispielsweise sind ohne den Blick auf die schwarze, queere Community, nur halb erzählt, das weiß auch Shaw. Genauso geht sie auf die Stigmatisierung schwuler und bisexueller Männer beim Thema AIDS ein (trans Frauen nennt sie hier nicht). Andere wichtige Verbindungen fehlen.
Viel gelernt und doch frustriert
Ich bin froh, dass ich das Buch gelesen hab. Ich konnte viel über queere Geschichte lernen und den wissenschaftlichen Blick auf (Bi)Sexualität. Für mich hat „Bi“ nicht gehalten, was es versprochen hat. Einiges war mir zu knapp, anderes zu verwaschen. Julia Shaw hat es sich zur Aufgabe gemacht, ein bisher nahezu unbedachtes Thema in ein Sachbuch zu packen. Auch deswegen konnte ich viel mitnehmen und gestehe ihr Abstriche durchaus zu. Leider sind es für mich persönlich zu viele Punkte, bei denen ich mir „mehr“ gewünscht hätte. Für einen ersten, groben Blick auf die Geschichte der Sexualforschung und mit dem Wissen, dass „Bi“ hier als Überbegriff gemeint ist, kann das Buch durchaus hilfreich sein. Alle, die eher kritisch auf die genannte Übergriffigkeit und das Unsichtbarmachen anderer multisexueller Formen reagieren, werden hier wahrscheinlich nicht glücklich.