Aus dem Arctis Verlag hat mich Beinahe Herbst von Marianne Kaurin erreicht. Das Buch besticht auf den ersten Blick über ein zauberhaft herbstliches Cover. Umso bedrückend historischer ist der Inhalt. Die norwegische Autorin hat für ihr Debüt zwei Jugendliteraturpreise bekommen, wodurch das Buch zu #WirlesenFrauen zählen kann. Übersetzt wurde das Buch von Dagmar Mißfeldt.
Ilse Stern ist verliebt in den Nachbarsjungen. Aus dem wird sie nicht so recht schlau. Er will mit ihr ausgehen und versetzt sie dann, er will mit ihr zusammen sein und bleibt doch unnahbar. Ihre große Schwester Sonja möchte dem elterlichen Geschäft entkommen und als Näherin beim Theater arbeiten. Zwei ganz normale Jugendliche also. Doch es ist 1942 in Olso, die Deutschen sind schon da und die Sterns sind Juden.
Eine Familie
Beinahe Herbst erzählt die Geschichte der Familie. Die sich anbahnende Romanze der aufmüpfigen Ilse, die in greifbare Nähre gerückte Selbstständigkeit von Sonja. Aber daneben schließt sich der Kreis um die historischen Geschehnisse. Der Vater putzt jeden Tag, ehe die Töchter in den Laden kommen, die Schmierereien von den Schaufenstern, die Finanzen sind miserabel geworden. Der Nachbarsjunge darf nicht mit der kleinsten Tochter reden, das Radio hat die Familie abgeben müssen.
Viele Kleinigkeiten summieren sich und werden zu einer Belastung, die die Sorglosigkeit der Töchter in eine grausame Naivität verwandelt. Auch die Eltern hoffen und warten, können nicht glauben, was da geschieht, warten schließlich zu lange. Eines Tages wird der Vater abgeholt, die Mutter fällt in eine Lethargie, die auf das schreckliche Ende mit hinarbeitet. Schließlich klopft es frühmorgens und drei Polizisten stehen vor der Tür, um auch den Rest der Familie zu holen.
Opfer und Täter
Auf bedrückende Weise lässt Beinahe Herbst am Schicksal der Sterns teilnehmen, und geht darüber hinaus. Was macht Hermann, Ilses Schwarm, in jenem abgeschotteten Hinterzimmer? Wie kann es sein, dass der freundliche Nachbar sich zwischen zwei Entscheidungen gefangen sieht, die beide schrecklich falsch sind und auf so viele Weisen Einfluss auf das Leben der Sterns finden? Das Mitläuferschaft nicht so einfach als frei gewählt abgestempelt werden kann wird so einfach und so eindrucksvoll geschildert. Aber auch, aus welchen Zufällen Hoffnung entsteht, wo keine mehr sein kann.
Der Roman führt bis in die tiefsten Abgründe des dritten Reiches, jene verhängnisvolle Kammern. Es führt in die Einsamkeit und Angst, in die Fassungslosigkeit. Aber auch in die Hoffnung und auf ungeahnte Wege. Beinahe Herbst ist ein fürchterlich ehrliches Buch, das keine schöne Geschichte erzählen kann. Aber eine sehr gute.