Herta Müllers Roman Atemschaukel hat mit 305 Seiten viel zu bieten – neben allen Vorzügen auch ein plus für mein Einmal durchs Regal Konto. Schaurig wird dem Leser da zu mute, Gänsehaut überfällt ihn und die unsagbare Gewissheit, dass mehr Wahrheit in der Geschichte steckt, als in unserer Geschichte erlaubt sein sollte. Wir wissen, sie ist furchtbar, die deutsche Geschichte, und ihre Folgen spüren wir noch heute.
Der Erzähler Leo wird als junger Mann von den russischen Besatzern in ein Lager gesteckt, um nach dem zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau zu helfen. Mit dutzenden anderen deportiert und eingesperrt erlebt er Qualen, Angst, Hunger und Einsamkeit. Er sieht Menschen sterben und andere ihre Macht schonungslos vorführen. Die Heimat wird ein ferner Traum, wird fremd und die Fremde doch nie Heimat. Unterstützt wird die Krise durch die Homosexualität des Protagonisten, der selbst unter den seinigen eben ein Außenseiter bleibt.
Erschreckend anschaulich ist die Erzählung, auch weil Herta Müller Aufzeichnungen aus Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior, der in solch einem Lager tatsächlich war, als Grundlage verwendet hat. Hineingeworfen in eine Schuld, die ihm unbegreiflich ist, ist der Siebzehnjährige in eine Existenz an der Grenze zur Existenz selbst gezwungen. Als er zurückkehrt, ist sein ehemaliges Leben vergangen. Seine Eltern haben ihn durch einen kleinen Bruder ersetzt, sein Trauma ist unvergänglich und sein Sein selbst wird infrage gestellt.
Die Sprache des Romans dabei ist eine geniale Ausprägung. Mit nahezu lyrischen Wortzusammensetzungen und neuen Metaphern schafft Herta Müller eine Innensicht des Protagonisten, der seine Umwelt betrachtet und sich selbst verliert, weil er keine Möglichkeit hat, als Selbst zu bestehen. Kunst ist diese Sprache und dem Erzähler so eigen, dass der Leser ihn fast flüstern hört, mit gealterter, zittriger Stimme, unfähig Emotionen zu verdrängen, obwohl er es müsste, um nicht zu verzweifeln.
Atemschaukel ist ein Buch, dass jedem ans Herz gelegt sei, der die deutsche Sprache liebt und weiß, wie kunstvoll sie sein kann. Ich war erschrocken von der Anschaulichkeit und verzückt von den Möglichkeiten, die in Worten verborgen liegen zugleich. Das macht den großen Reiz des Romans aus!