Auf einem Holztisch liegt ein E-Reader, halb auf einer gehäkelten Tischdecke. Rechts oben sind violette Steinchen verstreut

Autor*innen sollen und wollen diverse Welten und Figuren schaffen. Gleichzeitig ist ihr Erfahrungsschatz begrenzt. Als Weiße Frau kann ich Rassismus nur von außen wahrnehmen, als queere fehlt mir trotzdem die Perspektive von homosexuellen oder aromantischen Menschen, meine chronische Krankheit lässt mich nicht nachvollziehen, wie behinderte Menschen fühlen. Das Spektrum der Wirklichkeit ist viel breiter, als es die sogenannte Norm vermuten lässt. Gleichzeitig stellt Literatur ein wichtiger Sinnzugang dar. Nicht nur für alle, die sich darin wiederfinden, sondern auch, wenn Bücher uns Welten zeigen, die wir selbst nie erfahren können. Darum ist auch #DiverserLesen so wichtig. Wenn Romane eine trans Perspektive haben, diese aber nicht authentisch ist, formt sie dennoch das Verständnis für trans Personen mit.

Auf einem schwarzen Tisch inmitten gelber Blüten liegt ein eReader mit bunter Hülle
Diskriminierungsfreies Schreiben funktioniert am besten mit Sensitivity Reading

Um Autor*innen zu helfen, neue Perspektive authentisch und diskriminierungsfrei einnehmen zu können gibt es Methoden wie das Sensitivity Reading. Unter Elif und Victoria, zwei beindruckende Menschen, die sich nicht nur mit Literatur, sondern auch mit verschiedenen Diskriminierungsformen nur zu gut auskennen, hat sich das Team von Sensitivity-Reading.de gebildet. Heut spreche ich mit den Mitorganisatorinnen Alexandra Koch und Jessica Bradley über ihre Arbeit und warum sie so wichtig ist.

Willkommen Alexandra und Jessica von Sensitivity Reading

Schreibtrieb: Hallo ihr Lieben, danke, dass ihr euch in diesen turbulenten Wochen Zeit für uns nehmt. Ihr seid im Team für die Seite von Sensitivity Reading zuständig. Sensitivity Reading heißt, dass ihr oder Leute aus euer Kartei Texte auf mögliche Diskriminierungen prüfen und Autor*innen helfen, diverse Geschichten authentisch zu gestalten. Sollte diese Aufgabe nicht eigentlich zum üblichen Lektoratsprozess gehören?

Alexandra: Wenn marginalisierte Menschen in der gesamten Verlagsbranche breit vertreten wären, also als Autor*innen, Lektor*innen und Verleger*innen überall mitwirken und mitbestimmen könnten, bräuchte man das Sensitivity Reading vielleicht gar nicht mehr. Also dann, wenn ein breites Verständnis und Aufmerksamkeit für Diskriminierungen und Klischees vorhanden wäre. Aber davon sind wir ja im Moment noch weit entfernt. Deshalb ist das Sensitivity Reading eine gute Alternative, um trotzdem diese wichtigen Perspektiven in den Prozess der Entstehung eines Buches einzubeziehen.

Schreibtrieb: Die Aufmerksamkeit für Sensitivity Reading und diskriminierungsfreie Texte wächst immer mehr. Gleichzeitig werden gefühlt die immer gleichen Probleme gerade von oben reproduziert. Arbeitet ihr vor allem mit Autor*innen zusammen oder auch mit Verlagen?

Alexandra: Das ist ganz unterschiedlich. Im Moment geht die Initiative oft noch hauptsächlich von den Autor*innen selbst aus, die sich Unterstützung bei diesen Themen wünschen. Aber wir arbeiten auch stärker mit Verlagen zusammen, die beginnen Sensitivity Reading in ihre Prozesse einzubeziehen.

Zehn Kategorien und mehr

Schreibtrieb: Ihr sammelt diverse Sensitivity Reader, die zu zehn verschiedenen Überkategorien wie Gewalterfahrungen, Rassismuserfahrungen, psychische Krankheiten oder auch Fatshaming eingeteilt werden, so dass bei euch viele Autor*innen fündig werden können. Aber erst, wenn der Text bereits fertig ist. Welche anderen Anlaufstellen für Autor*innen und Leser*innen kennt ihr? 

Alexandra: Sensitivity Reading kann viele Ausgestaltungsformen haben. Viele haben sofort die “Überprüfung” eines fertigen Textes im Kopf, aber tatsächlich werden wir auch immer wieder angefragt, um Autor*innen schon vorher zu beraten: beim Schreiben (oder schon in der Konzeption eines Romans) kommen Fragen auf, die unmittelbar mit unserem jeweiligen Thema zusammenhängen; auch da können wir helfen. Das kann man vergleichen mit Krimiautor*innen, die bei der Recherche auch schon mit Gerichtsmediziner*innen oder Polizist*innen sprechen, um dann beim Schreiben konkrete Vorstellungen von der Umsetzung zu haben.

Das Team von Sensitivity-Reading.de arbeitet ehrenamtlich, allein die Sensitivity Reader werden von der oder dem jeweiligen Auftraggeber*in bezahlt. Hinter der Idee steht also keine Agentur, sondern die Funktion als Vermittlung zwischen Autor*innen und Readern. Als erste Anlaufstelle für Schriftsteller*innen, die ihre Geschichten auf Diskriminierungen und Ismen prüfen lassen wollen, ist die Aufgabe der Sammlung im ersten Moment, Sichtbarkeit zu schaffen. Für die verschiedenen Schwerpunkte, aber auch die einzelnen Sensitivity Reader selbst. Sensitivity Reader sind Personen aus marginalisierten Gruppen, die sich mit den Diskursen um ihr Thema auseinandersetzen und einen Bezug zur Literatur haben. Doch es geht auch um Sicherheit und einen festen Rahmen. Das Vertragsverhältnis besteht ausschließlich zwischen Autor*in und Sensitivity Reader. Das Team von Sensitivity-Reading.de empfiehlt dennoch, Leistung, Zeitraum und Honorar festzuhalten.

Mit dem Mensch dahinter agieren im Sensitivity Reading

Schreibtrieb: Ich selbst hatte bereits einmal ein Sensitivity Reading für einen Roman und habe damals, bevor es eure Seite gab, über Elif den Kontakt hergestellt. Anders als beim Lektorat wurden im Text selbst nur wenige Stellen angestrichen, stattdessen bekam ich zwei ausführliche Seiten mit generellen Problemen, Möglichkeiten, diese zu umgehen und weiterführende Tipps. Das hat sich über das eigentliche Thema hinaus erstreckt und ich konnte nicht nur mein Buch voranbringen, sondern auch einiges selbst lernen. Welche Erfahrungen habt ihr mit Sensitivity Reading?

Jessica: Bisher habe ich ähnliche Erfahrungen gemacht. Die Autor*innen, die ich betreut habe, waren durchweg zufrieden und haben eine positive Resonanz geschickt. Viele waren erstaunt, wie weit ein Sensitivity Reading das eigene Buch voranbringen und vertiefen kann. Ich hatte allerdings einmal den Fall, dass durch ein Sensitivity Reading alte Erinnerungen aufgebrochen sind. An dem Punkt lasse ich natürlich niemanden alleine. Es gab Gespräche und zusätzliche Tipps, an welche Stellen man sich wenden kann. Sensitivity Reading heißt für mich, nicht nur einen Text anzusehen, sondern auch mit dem Menschen dahinter zu agieren. In der Zeit des Sensitivity Reading bin ich für Fragen und Gesprächen immer erreichbar. Das ist mein Rundum-Paket und eine Nachbetreuung gibt es auch.

Alexandra: Ich habe in meinen Readings auch bisher durchweg positive Erfahrungen gemacht. Wir arbeiten ja eng mit Autor*innen zusammen, die ein Interesse daran haben, ihre Geschichten in diesem Aspekt authentischer zu gestalten. Die Bereitschaft über mögliche Probleme zu sprechen, ist daher groß. 
Übrigens gibt es (je nach Thema und Geschichte natürlich) neben den allgemeineren Anmerkungen zum Aufbau / Entwicklung einer Figur mit Behinderungen bei mir durchaus mal viele “angestrichene Stellen”. Der ganz alltägliche Ableismus (also das Denken, dass Menschen ohne Behinderungen überall die Norm sind und die Abwertung von Menschen mit Behinderungen) ist in unserer Sprache an einigen Stellen tief verankert.

Das Cover von Nachtfrost zeigt den Titel umrahmt von Schneeflocken und Eisblüten
Jessica Bradley ist selbst Autorin, Alexandra Koch bloggt über Bücher

Kein Wettbewerb der Diskriminierungen

Schreibtrieb: Wir hatten 2020 durch Black Lives Matters eine längst überfällige Debatte zu Rassismus, gleichzeitig hat Corona gerade für behinderte Menschen Problematiken verschärft und nicht zuletzt gab es durch verschiedene prominente Äußerungen zu trans Personen auch hier einiges an Gesprächsstoff. Was sind die häufigsten Themen, zu denen ihr nach Sensitivity Readern gefragt werdet?

Alexandra: Da die Kommunikation direkt von den Autor*innen oder Verlagen an die Sensitivity Reader in unserem Verzeichnis geht, können wir das gar nicht sagen. Und es ist ja auch kein Wettbewerb, welches Thema mehr “im Trend” liegt. Jede der Kategorien auf unserer Seite benötigt eine authentische Repräsentation, und deshalb freue ich mich über jede Anfrage bei mir oder einem*einer der anderen Reader.  

Schreibtrieb: Sensitivity Reading ist das eine, aber auch own voice Autor:innen haben Aufmerksamkeit verdient. Sollten Autor*innen überhaupt über Dinge schreiben, zu denen sie keine Erfahrungswerte haben?

Jessica: Ich bin nicht nur eine Sensitivity Readerin, sondern auch eine Own-Voice-Autorin. Wenn wir davon ausgehen, dass es 25 % Own-Voice-Autor*innen gibt (das ist nur ein Beispiel) und nur diese eben in ihren Erfahrungen, Erlebten etc. schreiben dürfen, gäbe es definitiv weniger Bücher. Ich bin der Meinung, man muss nicht traumatisiert sein, um über traumatische Erlebnisse schreiben zu dürfen. Was meiner Meinung nach aber wichtig ist, ist, dass die Autor*innen sich damit auseinandersetzen. Und damit meine ich, nicht nur in Fachliteratur zu recherchieren, sondern auch Betroffene anzuhören. Einen Blick hinter die Kulissen, sozusagen. Oder sich eben um ein Sensitivity Reading bemühen. So viele psychische Erkrankungen sind in den Köpfen der Menschen mit falschen Informationen verankert und da steht uns noch viel Aufklärungsarbeit bevor. Am besten können wir das, indem wir Medien wie Bücher und Filme dazu nutzen. 

Kreativ ohne Ismen

Schreibtrieb: Platon sagte einmal „die Dichter lügen“ und er wollte sie alle deswegen aus der Polis jagen. Erfinden Autor:innen nicht seit je her Neues, Unbekanntes und lassen Figuren entstehen, die eben fiktiv und damit nicht zwangsläufig an die Realität gebunden sind? Wie bringt ihr die kreative Schöpfung von Schriftsteller:innen mit Sensitivity Reading in Einklang?

Jessica: Auch fiktive Schöpfungen sind an Regelungen gebunden. Ob wir sie nun aus unserer Welt ableiten oder gänzlich neu erfinden. Ansonsten funktioniert eine Geschichte nicht oder sie wird unglaubwürdig. Das ist jedem und jede*r Autor*in klar und gehört zu einer der essenziellen Regeln des Geschichtenschreibens. 
Experimentelle Realitäten müssen oder sollten dennoch keine Ismen produzieren oder schädliche Klischees bedienen, mit denen sie marginalisierte Menschen verletzen oder zu weiteren Ausgrenzungen beitragen. 
Das ist doch das Tolle an der kreativen Möglichkeit, Neues zu erschaffen und alte Gewohnheiten oder Gepflogenheiten nicht wieder und wieder zu reproduzieren. 

Der Vorteil von Sensitivity Reading liegt auf der Hand. Ein Text, der auf Diskriminierungen geprüft und dementsprechend überarbeitet wird, kann eine größere Zielgruppe erreichen und hilft, die Wahrnehmung der Welt diskriminierungsfreier zu gestalten. Für Betroffene sind solche Bücher essenziell, aber auch andere erweitern ihren Blick auf die Wirklichkeit. Trotzdem steht Sensitivity Reading in der Kritik, die schöpferische Freiheit zu beschränken und vor allem zu streichen. Dass es dabei viel mehr um eine Erweiterung von sprachlichen Möglichkeiten geht, die nicht nur ohne das Reproduzieren von verbalen Attacken funktioniert, sondern gleichzeitig oft viel genauer sein kann, wird nicht gesehen.

Es ist die alte Leier von „Jetzt darf ich gar nichts mehr sagen“, die vor die Angst, sich weiterzuentwickeln gestellt wird. Für Sensitivity Reader ist es darum zermürbend, sich immer wieder verteidigen zu müssen. Fakt ist, auch Sensitivity Reader machen lediglich auf Problemstellen aufmerksam und schlagen Veränderungen vor, die Überarbeitung und Entscheidung dabei liegt immer bei den Autor:innen. Gleichzeitig hilft diese Arbeit am Text neue Beschreibungen und Metaphern zu erfinden. Sprache entwickelt sich permanent und sprachliche Innovation wird stets gelobt. Warum dann nicht hier?

Das Schöne an Sensitivity Reading

Schreibtrieb: Was war bisher die schönste Erfahrung, die ihr mit Sensitivity Reading gemacht habt, und gab es auch schlimme?

Alexandra: Auch auf die Gefahr hin, dass das kitschig klingt, aber für mich ist jedes Sensitivity Reading eine tolle Erfahrung. Es sind immer wieder sehr intensive Gespräche und ein toller Austausch entstanden. Ein besonders schöner Moment war es für mich, als ich im Dialog mit einer Autorin merkte, wie sie nach einer Weile ihre eigenen unbewussten Vorurteile reflektierte und meine Kommentare zu einem Thema wirklich verstanden hat, nachdem ich zunächst schon davon ausgegangen war, dass sie dazu keine Änderungen umsetzen wird. Das wäre in Ordnung, wir geben Autor*innen ja nicht vor, was sie zu schreiben haben, aber dieser Moment echten Verstehens hat mich sehr gefreut.
Aber auch die Arbeit im Team von Sensitivity-Reading bringt immer wieder schöne Momente. Wir stecken viel Arbeit in die Seite, sind aber ein tolles Team und es gibt auch immer wieder spannende Anfragen (wie zum Beispiel von dir), die für mich irgendwie nie ganz alltäglich werden.

Schreibtrieb: Ihr habt dieses Jahr mit viel Engagement gestartet. Auf Instagram und Twitter gibt es täglich tolle Tipps und Zitate zu Sensitivity Reading. Welche Pläne habt ihr für 2021?

Jessica: Durch aktuelle Umstände wie Corona etc. wollen wir noch offen beziehungsweise flexibel halten, wann wir welches Projekt starten. Folgt uns aber gern auf unseren Social Media Kanälen, da werden wir über alles auf dem Laufenden halten! 

Schreibtrieb: Danke euch beiden für eure Antworten und den Blick hinter Sensitivity Reading. Ich selbst habe auf beiden Seiten der Arbeit am Text einen sehr kreativen Austausch erlebt und kann Autor:innen nur empfehlen, hier ihren Horizont und auch ihre Geschichten zu erweitern. Vielfalt macht einen Roman größer und erreicht dadurch mehr Menschen, mehr Leser:innen und mehr Lebensrealitäten.

Buchtipps

Jessica: Ich möchte von Torey L. Hayden: Weil ich ein Alien bin empfehlen. Es gibt einen kleinen empathischen Einblick in den langen und schweren Weg einer Therapie zweier traumatisierter Kinder.
Weiterhin empfehle ich den Roman Samira&Samir von Siba Shakib, der mich sehr bewegt hat und sich um die Geschlechteridentität eines jungen Mädchens in Afghanistan dreht. Der Roman ist sehr einfühlsam geschrieben. (TW sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung)

Alexandra: Ich mache den Abschluss mit einem Kinderbuch, Weihnachten ist zwar gerade vorbei, aber “Der Weihnachtosaurus” von Tom Fletcher kann ich einfach nicht oft genug empfehlen. Die Hauptfigur des Buches ist ein kleiner Junge im Rollstuhl, seine Behinderung ist aber weder das Thema des Romans (es geht schließlich um den Dinosaurier!) noch wird ein großes Drama drum gemacht. So viel Normalität bei der Repräsentation behinderter Menschen wünsche ich mir für andere Bücher auch.

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