Heute erscheint Barbara Gowdys Kleine Schwester bei Kunstmann. Die 240 Seiten in der Übersetzung von Ulrike Becker durfte ich bereits vorab lesen. Danke an den Verlag für mein Rezensionsexemplar.
Rose führt das Kino ihres verstorbenen Vaters zusammen mit ihrer an Demenz leidenden Mutter. Da beginnt sie in den Sommergewittern das Bewusstsein zu verlieren und sich im Körper einer anderen Frau wiederzufinden. Fasziniert von diesem so anderen, aufwühlenden Lebe sucht Rose ihre eigenen Aussetzer. Das fremde Drama, das sie so gerne steuern möchte. Gleichzeitig taucht in ihr selbst die Erinnerung an ein ganz anderes Drama auf, den Tod ihrer jüngeren Schwester Ava, an die die Fremde sie so sehr erinnert.
Selbstflucht und Selbstsuche
Kleine Schwester ist ein Buch über Fluchten. Anders kann ich es gar nicht ausdrücken. Rose flüchtet vor ihrem eigenen Leben, ihren Erinnerungen und Entscheidungen in das Leben der Fremde. Die Obsession, dieses Leben zu retten, in dem sie doch nur Zuschauerin ist. Hier wirkt das Motiv des Kinos umso mehr. Das Mitfiebern, der Wunsch nach Erlösung und die eigene Befriedigung, wenn sie auf der Leinwand eintritt. Die Metapher für die Flucht aus dem Alltag, aber auch die Flucht vor den eigenen Problemen.
Und Probleme hat Rose genug. Nicht nur die Mutter, deren Aussetzer nur eine andere Art von Parallelismus zu Roses eigener Situation beschreiben, sondern auch die Vorurteile ihres Lebens, die Beziehung zu einem Mann, der nur oberflächlich zu ihr passt. Viele Feinheiten und tief dahinter das Trauma um ihre Schwester Ava. Verdrängung, jede Menge, aber auch die Suche nach dem, was das Leben noch zu bieten hat.
Perspektiven
Elementar dahinter ist die Frage, wie Rose sich selbst sieht. Durch ihr Eintauchen in das fremde Leben kann sie etwas erfahren, was ihr selbst immer fremd sein wird. Dass diese Selbstfindung so nah an Tochter, Schwester aber auch Mutterschaft ausgemacht wird, hat mich leicht irritiert. Rose definiert sich nicht über sich selbst, sondern über das Fremdbild ihrer Mitmenschen. Das ist ihr Problem und löst sich auch eher durch die Notwendigkeit. Sie beginnt erst aktiv zu werden, als sie glaubt, ihre Passivität wieder gut machen zu können.
Dabei spielt der Roman mit den Erwartungen des Lesers immer wieder auf alles Zeitebenen. Ein großer Vorteil in diesem Buch voller Innensichten, dass der Leser sich verbunden fühlt und dennoch außen vor bleibt. Rose sieht die Welt durch die Augen einer anderen, das Fremdbild wird geradezu perfektioniert, während der Leser nie richtig eintauchen kann. Ein sonderbares Spiel um die Perspektiven, das seinen Reiz hat.
Wo fängt das ICH an?
Vielleicht ist es darum auch weniger die Handlung an und für sich, die fesselt, als die Blickwinkel und Reflektionen dahinter. Nicht zuletzt, die Reflektion auf sich selbst und das eigene Leben. Aber auch auf die Spiegelung der anderen, die wir absichtlich oder unabsichtlich durchleben. Wo fängt da eigentlich das wirkliche ICH an. Eine spannende Frage, die Kleine Schwester behandelt, aber nicht beantwortet. Muss es auch nicht. So wie sich die Gewitter bricht auch Rose aus und wird zur Akteurin. Die Entwicklung dahin ist spannend zu betrachtet.
Ein feiner Roman mit psychologischer Raffinesse und einem interessanten Gedankenexperiment. Nicht durchweg fesselnd, aber immer wieder faszinierend.
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