Ismaels Orangen von Claire Hajaj, erschienen unlängst bei blanvalet mit 448 Seiten erzählt die Geschichte von Salim und Judith, die über kulturelle und religiöse Grenzen hinaus eine Beziehung eingehen und erfahren, welche Probleme damit auf sie warten.
Salim muss als Kind erleben, wie er als Palästinenser aus seinem Heimatdorf vertreiben wird, die Orangenplantage der Familie wird zurückgelassen. Der Hass gegen die Juden, denen die Schuld gegeben wird, die alle pauschalisiert werden, ist groß. Im London wächst zur selbst Zeit Judith heran, die erleben muss, welche Gesichter und Formen Antisemitismus hat. Sie lernt, dass die Araber Schuld an allem seine – zumindest an der Situation in Israel. Als beide erwachsen sind, lernen sie sich kennen und lieben, versprechen sich über den vorgefertigten Meinungen zu stehen. Jahre später, als Salim immer wieder in der Arbeit Niederschläge hinnehmen musste – weil er zwar einen britischen Pass hat, aber „kein Brite“ ist, als er will, dass seine Kinder Arabisch lernen und Judith ihnen heimlich die Menora ihrer Großmutter erklärt, ist klar, dass sie sich selbst belogen haben.
Von Anfang an ist der Leser gefangen zwischen den beiden Figuren. Auf beider Seite und damit doch auf keiner. Denn nur, weil er beide Seiten kennt, heißt das nicht, dass er eine Frage auf das große „Warum“ hat. Die hat er nicht. Auch nicht nach dem Lesen des Buches. Nach dem Lesen von Ismaels Orangen weiß er aber, wie wichtig der Blickwinkel ist. Wie schnell wir uns überall angegriffen fühlen, wenn eine einzige Sache aus dem Ruder läuft. Welches Glück er haben könnte mit seiner Familie sieht Salim irgendwann nicht mehr, er vergisst, nach vorne zu blicken und sieht nur noch die Ungerechtigkeit der Vergangenheit. Besessen von den Orangen und seiner kindlichen Unschuld.
So politisch, wie auf den ersten Blick der Eindruck entsteht, ist der Roman gar nicht. Es geht nicht so sehr um die großen Entscheidungen, sondern auf die Einzelschicksale, die in gewisser Weise übertragbar sind. Um viele Entscheidungen, die alle auf eine Weise falsch und auf die andere richtig sind. Um Väter, die enttäuschen und Mütter, die gehen. Um große Nähe und große Ferne und den unendlichen Wunsch nach Glück und Sicherheit.
Gerade den ersten Teil des Romans fand ich sehr toll. Hier ist die Nähe zu den Protagonisten entscheidend und wichtig. Sie wird aufgebaut und muss den Roman über bestehen. Der zweite Teil ist eher distanziert. Etwas entfremdet sind Salim und Judith, sich und uns. Rückblenden und kurze Einblicke zu Schlüsselmomenten werden gewährt. Hin und her gerissen zwischen den Kindern, den jungen Erwachsenen und den Eltern, die sie geworden sind. Von der Gesellschaft nur scheinbar akzeptiert und immer wieder sich selbst und ihre Beziehung verteidigend, sind sie müde geworden, zweifeln, sind schneller bereit, stereotypisch zu werden, weil sie im der Geschwindigkeit des Alltags das Miteinander verloren haben. Was vielen Paaren passiert und hier überdeutlich zu Tage tritt. Die Kommunikation wird träge, verliert sich. Sie tragen für sich ihre Probleme und können nicht mehr zusammenkommen.
Es ist interessant die Wege zu betrachten, auf denen sich Teile von Geschichten wiederholen, die Erinnerung daran in den Köpfen der Protagonisten, ihr Versuch, es aufzuhalten, der nur unweigerlicher in den alten Vorwürfen endet. Und immer vor der Kulisse des jüdisch-palästinensischen Konflikts.
Das Buch hilft niemandem, diesen Konflikt besser zu verstehen oder Partei zu ergreifen. Es verurteilt niemanden, oder alle. Einzelschicksale werden übertragbar, über Generationen hinweg. Die Frage, welche Lösungen es gibt oder gegeben hätte, bleibt stehen, die Frage wie gut das Ende ist oder eben nicht ist. Einzelmeinungen. Mit klarem Stil und einem schicksalhaft gerichteten Blick greift der Roman eine Familie, die gegen alle und für sich kämpft und irgendwann nicht mehr weiß, wo sie steht. Ein Buch, das nahe geht, das zum Nachdenken anregt und die Illusion selbst desillusioniert.