Bahnhofsbuchhandlungen sind ideal, um Bücher zu entdecken. Während ich dort auf meinen Zug warte, stöbere ich, überfliege Seiten, lese Klappentexte und gewinne Eindrücke. Eines Tages stieß ich am Mannheimer Bahnhof auf Der Geschmack von Apfelkernen von Katharina Hagena und es schien mir sofort ideal für meine Mutter, die bald Geburtstag hatte. Sie las es, war begeistert und animierte mich, es auch zu lesen. Und,was soll ich sagen, es hat auch mir gefallen.
Der Geschmack von Apfelkernen erzählt eine Familiengeschichte in mehreren Ebenen. Da wäre die Vergangenheit der Großmutter, die gerade gestorben ist, die mit ihrer Schwester eine enge und tragische Geschichte verband, die vielleicht heimlich in den Dorflehrer verliebt war, deren Mann eventuell gar nicht der Vater aller ihrer Kinder war. Es sind die Möglichkeiten, die nicht festgeschrieben sind, die es so interessant machen. Doch Iris, die Protagonistin, spinnt sich Geschichten, die wahr sein könnten, versetzt sie mit Einzelheiten, mit Details, die unter die Haut gehen.
Iris hat das Haus geerbt, das Haus der Großmutter, die vielleicht gar nicht so brav war, wie alle immer dachten. Und Iris weiß nicht, ob sie sich darüber freuen kann. Die Geschichten, die die Wände erzählen sind oft schön und nostalgisch, aber auch bitterbös. Wie die Geschichte ihrer Cousine, die gestorben ist, die ihre alleinerziehende Mutter zurückgelassen hat, eine Frau, die den Verlust nie ganz verkraften konnte. Wie auch. Ein weitere Mosaikstein an der Häuserwand. Die Kindheit von Iris Großmutter, ihrer Mutter und ihre eigene Kindheit, alles trifft sich hier, alles kommt zusammen und manchmal ist es für Iris etwas schwer zu ertragen.
Zudem kommt die Gegenwart. Ein alter Bekannter, den sie küsst. Ein kalter See, in dem sie nackt schwimmt. Die Gegenwart bleibt eingebunden in die Vergangenheit, in der Erinnerung. Iris findet sich selbst darin, aber erst muss sie sich verlieren, in den Geschichten des Hauses. Und das kennen alle, die je in den Photoalben der vorangegangenen Generationen blättern, ihre Bücher lesen, ihre Zimmer durchwandern. Denn unweigerliche stellen wir uns dann die Frage, ob unser Selbst auch von unseren Vorfahren und ihren Erlebnissen bestimmt wird. Oder ob ihre Geschichten nur andere Mosaiksteine sind.
Der Geschmack von Apfelkernen ist kein Liebesroman und kein Selbstfindungsroman. Es ist ein Roman zur Erinnerung, zum Vergessen, zu den Geschichten, die uns streifen, und darum immer wieder schön.