Einer der Autoren, mit denen ich auf der Frankfurter Buchmesse reden durfte, war Jess Jochimsen, dessen neuer Roman Abschlussball mit 305 Seiten bei dtv erschienen ist. Und so viel vorweg: es wird skurril, makaber, genial. Heute, vor dem Interview, das nächste Woche erscheint, meine Rezension.
Marten ist Friedhofmusikant. Er trompetet bei Beerdigungen und kann sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen. Um die zwanzig hat er bereits eine Ausbildung als Bibliothekar und ein „Standardleben“ hinter sich, dem er entflohen ist. Eigentlich könnte alles immer so weiter gehen, wäre da nicht die Beerdigung eines ehemaligen Mitschülers, ein Haufen Geld und eine Unruhe, die ihn nicht so schnell loslässt.
Entwicklung, vor und zurück und rundherum
Abschlussball ist ein moderner Entwicklungsroman par Excellence. Nach einem Einstieg rekapituliert Marten seine Kindheit und Jugend. Gleichzeitig ist es genau der Gegenentwurf zu einem Entwicklungsroman, denn damals schon fühlte er sich schrecklich alt. Schwermut, Nachdenklichkeit, der Wunsch, Nichts zu tun, wirklich nichts. Während ich an einen gewissen Blechtrommler denken musste, der umgekehrt entscheidet, körperlich nie erwachsen zu werden, ist Marten, der Trompeter, auch körperlich alt. Er hat Gelenkschmerzen, graue Haare, die Physiologie gleicht sich seiner „alten“ Seele an. Und ja, natürlich steckt da viel dahinter. Schnell wird klar, dass Marten depressiv ist. Er hat Zusammenbrüche, bräuchte Hilfe, alles drum und dran.
Der Leser muss aufmerksam sein, um das zu entschlüsseln. Marten ist sehr introvertiert, er erzählt die Geschichte und blickt ganz anders auf sich, als sein Umfeld das zwischen den Zeilen tut. Während er die Musik als Mittel des Ausdrucks und Verbundenheit zu seiner Mutter (da trommelt mir wieder jemand was dazwischen^^) nutzt, sich seine Welt in Improvisationen versucht zu erspielen, gibt es nur wenige echte Verbindungen in seinem Leben. Seine Schwester, die eben da ist, sein Vater, der langsam verschwindet.
Wilhelm, der Spiegel
Jess Jochimsen zeigt einen ungewöhnlichen Helden, der dadurch besticht, dass er gar kein Held sein will. Als Marten Bücher „entdeckt“ verliert er sich in den Geschichten, weil er gar keine eigenen Abenteuer erleben will. Keinen Wundert es mehr, als ihn, dass er durch den Tod des ehemaligen Mitschülers so durchgerüttelt wird. Vielleicht auch, weil Marten zuletzt ihre Verbindung sieht. Wilhelm, in der Schule das Gegenteil von Marten, beliebt, gute Noten, überall dabei – und plötzlich verschwunden. Dass es eine andere Art, eine andere Ausprägung des gleichen Übels ist, wird nie benannt, es ist eine der Feinheiten des Romans.
Wilhelm ist gleichzeitig eine Parallelfigur und Spiegel für Marten. Dem einen fehlt der Vater, dem anderen die Mutter, hier gibt es Geld im Überfluss, dort klappt alles gerade so. Wie zwei Seiten einer Medaille, die sich doch um ein und die selbe Sache dreht. Das, was Marten mit „Altsein“ dechiffriert. Die leichten Zweifel, die unweigerlich bei der Spiegelung aufkommen, setzten sich beim größten Unterschied fort. Leben und Tod. Martens Abenteuer. Sehr schön übrigens, dass sich auch die Anfangsbuchstaben der Figuren spiegeln. W ist ein umgedrehtes M und anders herum. die Anspielung auf den Wilhelm Meister macht der Roman nicht umsonst.
W(ilhelm) und M(arten)
Eine winzige Handlung ist es dann, die Marten mitreißt. Weil er hofft, dass Wilhelms Geschichte anders verlaufen ist, aber auch, weil er insgeheim immer wieder auf seine eigene schielt. Dass der Leser auch das nicht vor den Latz geknallt bekommt, sondern selbst erlesen muss, ist für mich ein weiterer Pluspunkt. Es steht alles da, wir müssen es nur erkennen. Die vielen Anspielungen, von Romanen über Figuren, von Metaphern über Strukturen, haben mich ehrlich restlos begeistert.
Und natürlich der Inhalt selbst. Marten, der sich plötzlich in einem geheimen Keller wiederfindet, der sich verliebt zum ersten Mal jung fühlt, der das erste Mal die Grenzen von München übertritt. Und alles zirkelt immer wieder um seine Erkenntnis, die ihm bevorsteht. Der Leser ahnt es, sieht es kommen, rätselt dennoch. Dass der Roman selbst zyklisch verläuft, ist ein besonderes Schmankerl. Auch hier zeigt sich die tiefe Bildlichkeit. Der Fährmann, der sich durch die gesamte Handlung zieht und mal direkt benannt und dann wieder nur angedeutet ist, beispielsweise. Der Fährmann, der wie Marten mit seiner Trompete die Verstorbenen auf ihrer letzten Reise begleitet. Der Fährmann, der lehrt (und endlich eine Anspielung auf Siddharta, mein Lieblingsbuch).
Darum!
Es gibt Bücher, die mich begeistern, weil sie mich abholen. Solche, die mich faszinieren, weil sie so dicht sind, dass mein Literaturwissenschaftlerinnenherz hüpft und nicht aufhören kann, analysieren zu wollen (und es insgeheim auch tut). Bücher, die mich unterhalten, zum Lachen bringen, zum Nachdenken, zum Nicken. Sehr sehr wenige schaffen das alles auf einmal. Jess Jochimsens Abschlussball gehört definitiv dazu!
Ich hab das Buch auch schon seit einiger Zeit auf der Leseliste. Auf der Buchmesse habe ich dann auch mal reinlesen können und hätte es auch direkt mitgenommen, wenn ich gekonnt hätte. Auch deine Meinung zum Buch bestärkt mich in dem Glauben, dass das buch eine gute Lesewahl sein wird. Ich freue mich jedenfalls darauf.
Dann jetzt schon viel Spaß. Wenn man sich auf den Protagonisten einlassen kann, ist „Abschlussball“ wirklich bereichernd.