09.10 – Inzest, Misshandlung und Literatur – Der Stier und das Mädchen

Gestern hatten wir beim Quiz zu den ersten Sätzen von Romanen viel Spaß, aber heute wird es ernst. Dank Susanne Kasper von Literaturschock konnte ich den frisch im November erschienen Thriller Der Stier und das Mädchen von Stefán Máni lesen. 240 Seiten hat das Buch, das voller Überraschungen und entsetzlicher Erkenntnisse ist. Dieser Beitrag ist Teil einer Bloggeraktion zum Buch.

Es ist auf mehrere Arten kein leichtes Buch, sondern eines, das im Gedächtnis bleibt, das aufrüttelt und bewegt. Helden und Täter, Opfer und Schuldige verschwimmen ineinander und es bleibt kein Halt mehr. Zwei Touristinnen entdecken bei einer Wanderung auf einem Bauernhof zwei Tote. Das ist der Anfang des Romans und gleichzeitig sein Ende. Wer sind die Toten und woher stammen sie? Aber vor allem: Wer hat die beiden so grausam zugerichtet? Etwas Monsterhaftes liegt in der Luft und im Roman färbt sich das auf fast jede der Figuren ab. Er führt an den Grund und erschüttert gerade darum.

Dabei stellt der Roman Mosaiksteinchen vor. Zwischen mehreren Zeitebenen springt die Geschichte hin und her, was im ersten Moment irritiert und stetig die Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Die Vorgeschichte zur eigentlichen Tat und die Tat selbst werden in abwechselnden Schritten erzählt, bis das Bild vollständig offenbart ist. Hin und wieder erkannte ich dabei Zusammenhänge, ehe die Handlung sie lieferte. Trotzdem mochte ich die Art und Weise, Spannung aufzubauen, zu halten und weiterzuführen.

Ich habe den Thriller als ebook gelesen
Ich Meister, du nichts

Ein wichtiges Thema dabei ist Misshandlung, auch im Sinne von Kindesmissbrauch. Damit werden zwei große Themen der Literatur angesprochen. Zum einen die Herrscher-Knecht-Problematik. Wo Dominanz in vielen literarischen Werken als positives Charakteristikum eingeführt wird und gerade mit Blick auf Dark Romance zu einer neuen Blüte gekommen ist, zeigt der Roman ein ungeschöntes Bild. Statt erotischer oder romantisierter Aufladung, wird deutlich vorgeführt, wie die psychologische Unterdrückung funktioniert und wie selbstzerstörerisch solche Beziehungen sein können. Liebe und Gewalt werden stark verknüpft, ebenso die Abhängigkeit, in die so eine Beziehung führt.

Im Zentrum steht Hanna, die vom Land in die Stadt geflohen ist und nicht nur ein Drogenproblem, sondern offensichtlich auch die falschen Männer in ihrem Leben hat. Eine gescheiterte Existenz, die den Rausch sucht, um dem eigenen Leben zu entfliehen. Die Männer in ihrem Leben geben ihr Rollen, die sie erfüllen soll. Was Hanna nie gelernt hat, ist ihre eigenen Wünsche zu artikulieren, weil sie nie eine Rolle spielten und auch in ihrem jetzigen Leben keine Rolle spielen dürfen. Sie ist das Paradebeispiel der Folgen von Sexismus, Gewalt und Einsamkeit.

Ich Vater, du Frau

Trocken realistisch umschifft der Roman auch nicht das Feld des Kindesmissbrauchs, sondern steuert direkt darauf zu. Nichts für schwache Nerven. Der Stier ist dabei die zeushafte Gestalt, die in dem Kopf des Mädchens existiert. Der prämierte Prachtbulle, gegen den niemand angekommen ist. Es ist eine Ergebung in das eigene Schicksal und einer der grässlichsten Momente des Romans, weil er den Ausgangspunkt darstellt. Die Erfahrungen der Gewalt gipfeln in diesem Übergriff, der eindeutig besagt, wer das Opfer ist und wer der Täter, der Stiert, der Tonangeber. Es folgen Lügen und Verstrickungen, die größtmögliche Einsamkeit und Entfremdung vom Leben. Die Zerstörung par excellence, die zum ersten Mal die Perspektive verschiebt. Aber nicht zum letzten Mal.

Ohne große Worte zeigt Der Stier und das Mädchen wie dieser Punkt systematisch in der Familie totgeschwiegen wird. Von allen Seiten aus wird Druck ausgeübt, Anschuldigen erhoben und der Kontakt nach außen regelrecht dezimiert. Was fehlt ist die direkte Kommunikation und auch hier greift der Roman einen wichtigen Punkt bei Missbrauch auf. Die Unsagbarkeit, auch sich selbst gegenüber. Sie wird allen Figuren schließlich zum Verhängnis.

Ein Blick in die Literaturgeschichte

Inzestmotiv und Unsagbarkeitstopos gehen in der Literaturgeschichte lange Hand in Hand. Während es bereits in antiken Sagen absolut normal ist, wenn unter den Göttern Inzest herrscht, wird derselbe den Sterblichen immer wieder zur drohenden Falle. Das Paradebeispiel des Ödipus endet nicht mit dessen Selbstentmannung. Auch seine Kinder, allen voran seine Tochter Antigone ereilt noch ein tragisches Schicksal. Inmitten steht die Unsagbarkeit. Während Ödipus nicht weiß, dass er seinen Vater ermordet und seine Mutter geheiratet und geschwängert hat, weil es ihm keiner sagt, übertritt Antigone ein weltliches Gesetz, gegen das keine Worte mehr helfen. Wohlgemerkt sehen bereits die Griechen einen Inzest nur unter Geschwistern bzw. Eltern und ihren Kinder. Ehen mit Cousins waren kein Problem.

Auch in den Jahrhunderten nach den antiken Tragödien wird das Inzestmotiv immer wieder heraufbeschworen, oft nur als Metapher oder Andeutung, aber immer mit der großen Frage der Unsagbarkeit im Anhang. Wagners Siegfried entsteht aus einer Inzestbeziehung zwischen Zwillingen. In Goethes Wilhelm Meister ist das androgyne Kind Mignon nicht nur Produkt einer Inzestbeziehung zwischen Geschwistern, sondern gleichzeitig als Kind unglücklich in Wilhelm verliebt. Sie versucht sogar, in sein Bett zu steigen, und ihr Herz bricht, als er dort mit einer anderen liegt. Max Frischs Homo Faber ist einer DER Inzestromane, der mit der Unsicherheit und Unsagbarkeit spielt. Robert Schneiders Schlafes Bruder erzählt die Geschichte eines Außenseiters, der seine Cousine liebt.

Noch Grass‘ Blechtrommler wünscht sich nichts mehr, als sogar in den großmütterlichen Leib zurückkehren zu können, während sein Mutterkomplex in schlussendlich in Heil- und Pflegeanstalt führt. Bei Jelineks Klavierspielerin wird die zerstörerische Hassliebe zur Mutter zur festen Konstante, während keine andere Beziehung der Protagonistin funktionieren kann – UND der Roman beinhaltet ein sexuelles Begehren gegenüber dem älteren Cousin. Die Faszination des Inzest und seine Abscheulichkeit haben Literaten seit Jahrtausenden angespornt. In der modernen Literatur findet sich Inzest nicht nur im Bereich der Fantastik, wie bei Game of Thrones, sondern auch immer wieder als tragischer oder krimineller Auslöser einer Geschichte.

Inzest ohne Gewalt?

Nicht immer ist die sexuelle Liebe zwischen nahen Verwandten mit Gewalt aufgeladen. Diese Ebene findet sich tatsächlich erst in „jüngeren“ Büchern, da die Problematik des Kindesmissbrauchs in der Art und Weise öffentlich eine junge ist. Nicht nur waren inzestuöse „Spiele“ zwischen Geschwistern und Cousins eine „Kleinigkeit“ – in Isabell Allendes Eva Luna beispielsweise noch vergnügt sich der Cousin während der Entdeckung der Sexualität mit den Töchtern seines Onkels, und sie sich mit ihm, auch galt die (kindliche) Vergewaltigung (ob mit oder ohne Schwangerschaft) als Schuld des Mädchens, weil sie die Verführerin war. Diese Denkweise finden wir heute auch noch. Nicht nur in Gebieten, wo Vergewaltigungsopfer öffentlich angeprangert werden, sondern auch psychologisch bei dem Schuld- und Schamkomplex, in das Vergewaltigte (unabhängig ihres Alters oder Geschlechts) abrutschen. Die Vorstellung, dass das Opfer die Schuld trägt, hat uns noch immer nicht losgelassen.

Zuletzt möchte ich einen kleinen Schlenker zur kürzlichen #Meetoo – Debatte machen. Sie hat gezeigt, wie alltäglich sexuelle Übergriffe aller Art sind, vom Angrabschen bis zur Vergewaltigung, und welche Hürde noch immer vor dem Aussprechen liegt. Die Unsagbarkeit von Vergewaltigung und Inzest ist nicht etwa überholt, sondern ein essentielles Problem unserer Gesellschaft. Wo Übergriffigkeit und sexuelle Erniedrigungen als „Kompliment“ angesehen werden, kann ein Mensch nicht sorglos existieren. Der Stier und das Mädchen zeigt eine traurige, erschreckende und grundlegend realistische Ausprägung einer solchen Geschichte. Ohne Triggerwarnung kann ich das Buch darum nicht empfehlen, aber ich lege es euch ans Herz, darüber nachzudenken.

Suse hat übrigens hier das Buch rezensiert

Am 12.12 könnt ihr bei Jürgen einen Podcast zum Roman hören

Cindy von Piranhapudel erzählt euch am 15.12 etwas über Island, wo der Roman spielt

Suse übernimmt den Abschluss am 19.12

Was ihr heute gewinnen könnt:

Dank dem großen A darf ich heute 5 (fünf!!!) Exemplare im Wunschformat (mobi oder print) von Der Stier und das Mädchen verlosen. Der Thriller eignet sich für alle, die es gruselig mögen und gerne miträtseln. Verratet mir dafür nur im Kommentar, ob euch noch ein Film oder ein Buch zum Thema Inzest und Missbrauch einfällt.

Teilnahme ab 18 oder mit Einverständnis eines Erziehungsberechtigten, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Der Gewinn kann nicht in bar ausgezahlt werden. Leser meines Blogs, die mir folgen und teilnehmen, bekommen ein Los extra. Generell habt ihr bei jedem Türchen die gleiche Chance, zu gewinnen. Das Gewinnspiel für den Gewinn zum 08.12.17 beginnt mit diesem Post und endet am 17.12.2017, 23:59.

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11 Kommentare

  1. Der Kindersammler von Sabine Thießler ( Ich musste es zwischendurch immer mal weglegen, fand es sehr heftig )

  2. Was für eine tolle Rezension zu einem Buch mit harter Thematik. „Der Stier und das Mädchen“ steht schon seit Erscheinen auf meiner WL.
    Zu der Bewerbungsfrage:
    Hier fällt mir doch gleich mal die Bibel ein, denn wenn es nach dieser geht sind wir alle doch irgendwie miteinander verwandt und der Inzest hat da bereits nach Adam und Eva begonnen. Zudem gibt es ja in der Bibel auch eine Geschichte, in der zwei Schwestern ihren Vater abfüllen, um ihn zu verführen. Und entstand nicht Moses auch aus einer inzestiösen Vereinigung? Tja, die Bibel, der erste Schauerroman mit Thriller-Elementen *g*.
    Dann wäre da noch die Artus-Sage – hier schlafen die beiden Geschwister Artus und Morrigain, unwissentlich und unter Zauber stehend, miteinander und aus dieser Vereinigung entstand Mordred.
    Und dann fällt mir noch „Der Zementgarten“ von Ian McEwan ein.
    Bei Filmen fällt mir irgendwie so gar keiner ein, aber dafür Lieder z.B. von meiner absoluten Lieblingsband Rammstein die Songs „Spiel mit mir“, „Laichzeit“ und „Wiener Blut“. Von den Ärzten (oder waren es die Toten Hosen?) gab es doch auch ein Lied, aber da fällt mir momentan der Titel nicht ein.
    Es gibt sicher noch einiges mehr, vor allem in der klassischen Literatur. Goethe hat Inzest ja glaub ich sogar mehrmals in seinen Werken thematisiert. In der Gegenwartsliteratur fällt mir kein Werk außer die „Das Lied von Eis und Feuer“-Saga ein, aber die hast Du ja bereits erwähnt.
    Und nach dieser elendig langen Antwort hüpfe ich in den Lostopf *hühüpf* und danke nochmals für den tollen Artikel.
    Liebe Grüße aus Wien
    Conny

    1. Super Beispiele, die eindeutig zeigen, wie sehr der Inzest-Gedanke in unserer Kultur und Kunst verortet ist. Lg

      1. Über dieses Thema könnte man endlos diskutieren und schwadronieren, egal ob historisch oder religiös gesehen.
        Lg

  3. So bewusst fällt mir kein Buch oder Film zu dem Thema ein, nur die o.g. Bibel. Kommt auch selten vor, denk ich. Ich glaub, bei Mordkommission Istanbul verliebte sich mal ein Mädel unwissentlich in den Vater, der das Opfer in der Folge war.

  4. spontan würde mir jetzt „Der Kameramörder“ von Glavinic einfallen, handelt zwar nicht von Inzest, aber von Missbrauch und seelische sowie physische Gewalt an Kindern. und „Fürsorge“ von Anke Stelling (habe ich selbst noch nicht gelesen, aber steht auf meiner Liste)

    liebste grüße,
    katharina von SJMB

  5. Mir fällt hier nur noch merciless ein. Junge verliebt sich in ein Mädchen und sie stellen später fest, das sie Geschwister sind.

    LG.

    Tanja

    1. Danke für den Tipp. Auch wieder ein unbewusster Inzest. Die große Tragik einer verbotenen Liebe.

  6. […] Möchte ich immer noch Island besuchen? Das fragte ich mich nach der Lektüre dieses Thrillers tatsächlich einige Male. Auch wenn ich noch so sehr hoffe, dass die Gewalt, von der Stefán Máni hier erzählt, in der Realität nicht stattfindet, seien wir doch mal ehrlich: Menschen können grausam sein, Literatur und Unsagbares gehen Hand in Hand, eine Mischung aus beidem, das ist es vielleicht. Darüber erzählt Eva-Maria vom Buchblog Schreibtrieb: […]

  7. Eine interessante Rezension zu einem Buch mit ernstem Thema. Ich lese im Moment das Spiel von Stephen King auch da geht es um Kindesmissbrauch und die Folgen für das Opfer

  8. Auch hier nochmal ein „Wohhoooo“ für den Gewinn. Bitte wenn möglich im Paperformat. Mein E-Reader spinnt derzeit bissl rum. Danke Dir vielmals und noch einen schönen Tag. Falls Du noch Adresse brauchst sag kurz auf Twitter Bescheid..aber vermutlich hast es eh schon gelesen *g*.
    Liebe Grüße und gute Besserung
    Conny

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