Wenn die Griechen nicht schlafen wollen

Habt ihr Kinder? Oder kleine Neffen und Nichten, Spitzbuben und Prinzessinnen, auf die ihr schon einmal aufgepasst habt? Selbst wenn nicht, erinnert ihr euch – seid ehrlich zu euch selbst – wie es war, als Mama euch wissend ansah. Dieser Blick, wenn sie euch durchschaut hat und ihr nie und nimmer zugeben wolltet, dass sie tatsächlich wusste, was das Beste für euch ich. Und wenn sie dann mit melodischer Stimme rief „Na, bist du müde? Magst du ins Bett gehen?“ Welche Antwort geben kleine, müde Kinder, ja selbst die großen, die sich gegen Mama behaupten wollen, da? „Magst du ins Bett gehen“, ist ein Satz, der von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist. Gut, das ist übertrieben, hin und wieder, wenn gerade keiner Hinschaut und die Sterne richtig stehen geben auch die kämpferischsten Kleinkinder zu, dass sie die Augen kaum mehr aufhalten können und so eine Mütze voll Schlaf mehr als verlockend ist. Die Ausnahme macht eben die Regel.

Behaltet dieses Bild im Hinterkopf. Das Gefühl des Widerstands gegen Müdigkeit und Elternautorität. Und jetzt mache ich einen kleinen Sprung. Wenn nun ein ganzes Volk, müde und voll Zukunftsangst vor die Wahl gestellt wird, einem Sparpaket zuzustimmen, selbst wenn es die Rettung wäre, oder ein Schritt dahin, das aber eben von jener umsorgenden Autorität zu kommen scheint, der es endlich entwischen will. Wenn jenes Volk, das zugegeben, nicht aus kleinen Kindern besteht, wohl aber aus verwirrten Erwachsenen, die nicht mehr wissen, wie der Morgen aussehen wird, die aus lauter Hilflosigkeit und Ohnmacht dem Übel einen Namen geben wollen, einen Schuldigen und Sündenbock für die Fehltritte die ein ganzes Land über Jahrzehnte gemacht hat. Und dann wird dieses Volk gefragt: „Na, bist du müde? Magst du ins Bett gehen.“ Papandreou, der griechische Premier, der in seinem Namen das elterliche „Papa“ auch noch geschrieben sieht, wagt die alles entscheidende Frage, und ich bin mir nicht sicher, ob es eine Verzweiflungstat oder der letzte Hoffnungsschimmer ist.

Natürlich, das Volk der Griechen besteht nicht wirklich aus kleinen, jammernden Kindern, die vor Müdigkeit zu schreien anfangen. Und die Frage, das Sparprogramm, das fremde Regierungen geplant haben, auch noch anzunehmen, soll zeigen, dass die Griechen nicht entmündigt sind, dass sie durchaus selbst über ihr Schicksal entscheiden sollen. Müde aber, müde vom Kampf gegen den Staatsbankrott, müde von Arbeitslosigkeit und Finanzproblemen, müde von den Regelungen, die ihnen auferlegt wurden, müde sind sie allemal, müde wie kleine Kinder, die momentan einfach nicht in der Lage sind, zu erkennen, dass Schlafen sinnvoll ist. Die wenigsten sind fähig zu überdenken, was ein ‚Nein’ von Griechenland für Europa bedeutet, es ist ihnen auch, verständlicherweise, egal, wo sie um ihre Existenzen bangen. Es ist zu spät für eine Gute-Nacht-Geschichte, und ob ein Nachtlicht brennen kann ist noch nicht entschieden, es kommt ganz darauf an, ob sie gähnen und ihre Müdigkeit eingestehen müssen, die Zähne zusammenbeißen und einen Weg wählen, der nicht leicht wird.

Darauf zu hoffen bleibt, denn Ausnahmen bestätigen die Regel und wir erinnern uns, dass wir irgendwann, als uns die Wahl blieb, einsahen, dass Schlaf sein Gutes hat, und immer noch fast jeden Abend freiwillig ins Bett gehen.

©Eva-Maria Obermann

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