Scheiß auf die anderen – Rebecca Niazi-Shahabi

Bei einer Lovelybooks-Leserunde durfte ich dieses Mal Rebecca Niazi-Shahabis neues Buch Scheiß auf die anderen lesen. Die 208 Seiten vom Piper Verlag kommen an wie ein Ratgeber, der keinen Rat geben will – und das geschickt.

Scheiß auf die anderenErwartet hatte ich – gerade bei dem Titel – freche und witzige Passagen, die den Selbstdarstellungswahn mehr verunglimpfen, als wirklich die Frage zu stellen, warum er uns so packt. Doch gerade das macht Rebecca Niazi-Shababi auf eindrucksvolle Weise. Statt Phrasen und platten Witzen kommt sie mit Fachwissen, Argumenten und hat so ein unterhaltsames, wie informatives Buch verfasst, dass vieles ist, aber kein Ratgeber. Zum Glück.

Durchweg gut recherchiert, griffig und argumentationsreif hat die Autorin ihr Buch aufgebaut. Sie geht das Problem nicht etwa überlegen an, sondern gibt den eigenen, unsicheren Standpunkt bezüglich der Selbstdarstellung zu und gut rüber. Die „unangepassten“ Eltern, die dies auf die Kinder abfärben und dann mit der Zeit eben doch das werden: angepasst, sie zeichnen ein interessantes Bild und eine Ausgangssituation, die nicht alltäglich ist und dennoch nachvollziehbar.

Bei der Kritik an den sozialen Medien und der Mythologisierung des Selbst hat mir die Erkenntnis, dass Fremdbild und Selbstbild im Internet noch weiter differieren (können), als im analogen Leben. Dann ist nämlich die Suche „nach dem eigenen selbst“ schon wieder mehr der Wunsch eines neu gemalten Fremdbildes, während das Selbstbild nicht zwangsläufig verändert werden muss.

Mit Geschick fügt die Autorin Marx und Engels in ihre Überlegungen ein, schafft dabei Interesse und wirkt keinesfalls belehrend. Viel mehr sucht sie nach etwas und lässt den Leser teilhaben. Gelungen finde ich, dass dabei nie von „wir müssen“ oder „wir sollten“ die Rede ist, sondern viel mit Fragen gearbeitet wird und die Herangehensweise so schon fast philosophisch betrachtet werden kann.

Der große Mythos von der ewigen, grenzenlosen Freiheit als Utopia wird entlarvt. In der Freiheit wird die Notwendigkeit der Wahl präsent, die eigene Verantwortung steigt und die Unmöglichkeit der grenzenlosen Freiheit für alle ist schon durch unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse gegeben. Etwas unter geht dabei der Gedanke, dass Identität keinesfalls etwas Festes und Unumstößliches ist, sondern formbar, variabel und situationsabhängig.

Stattdessen geht die Autorin mehr darauf ein, wie sehr unsere Selbstsicht von unserer Fremdsicht abhängig ist und dass unsere Identität massiv von den Vorstellungen der Menschen um uns herum abhängig ist. Die Frage, wie sehr die Einstellung „Scheiß auf die anderen“ überhaupt möglich ist, kommt zumindest bei mir dabei auf. Vielmehr komme ich nach dem Lesen des Buches zu dem Schluss, dass auch hier die Erkenntnis der erste Schritt zur Besserung ist. Ich erkenne, wie mein Selbstbild von „den anderen“ abhängt, von deren Verwirklichungen und Ansichten mir gegenüber. Gleichzeitig versuche ich dieses Bild so zu formen, dass ich zu einer Identität komme, die meiner Wunschidentität am Meisten entspricht. Da sich diese Variablen stetig ändern, ist der Prozess unendlich. Kann ich dann überhaupt zufrieden mit mir selbst sein? Ja, denke ich, wenn wir unseren Weg zur Selbstverwirklichung bereits als Teil des Zieles verstehen.

Das Buch hat mich auf jeden Fall, wie ihr seht, zum Denken angeregt und das mag ich bei einem Buch. Es ist meiner Meinung kein Ratgeber, denn es gibt keinen Rat, sondern kann Leser lediglich anregen. Aber gerade dann erfahren wir mehr und finden eventuell auch tatsächlich eine Lösung, die zu uns passt. Darum finde ich das Buch absolut empfehlenswert. Keine Unterhaltungsliteratur, aber unterhaltsam.

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