J von Howard Jacobson

Ein dystopischer Roman, dessen Beschreibung mich sofort interessiert hat, ist J von Howard Jacobson. 409 Seiten bei DVA, übersetzt von Friedhelm Rathjen und dieses Jahr in Deutsch erschienen.

JIn einer unbestimmten, fernen Zukunft ist die Vergangenheit ein rotes Tuch. WAS GESCHEHEN IST, FALLS ES GESCHEHEN IST, ist das große Ereignis, das ominös und andeutungsvoll schrecklich ein Volk ausgelöscht haben soll. Niemand spricht über sie, selbst Andenken und Familienerbstücke sind gesetzlich begrenzt, doch viele verstoßen gegen diese Gesetzte. Zu ihnen gehört auch Kevern, Drechsler und Einzelgänger. Als er auf Ailinn trifft lernt er die große Liebe kennen. Sie finden zueinander und trotzen kleineren Hürden. Doch ein gemeinsames Geheimnis, das sie vom Rest der Welt unterscheidet, stellt alles auf die Probe.

Der Stil ist überraschend. Kein einfaches Dahingeplänkel und keine drückende Spannung. Mit kleineren Zwischenstücken (Briefen, Tagebucheinträgen, …) wird das Bild des personalen Erzählers (mit durchaus allwissenden Momenten) erweitert. Dabei steht zunächst die aufkeimende Beziehung im Vordergrund, die ähnliche Hürden, wie viele andere, erfährt. Mehr am Rande wird die Spannung auf das geheimnisvolle Dahinter, die Vergangenheit, gelenkt.

Dieser Schachzug ist gelungen, denn natürlich ahnt der Leser, dass da noch was kommt, lernt aber zunächst die Protagonisten und ihre Eigenheiten gut kennen und findet so zu eigenen Annahmen. Gleichzeitig sind aber gerade diese Protagonisten keineswegs nur Helden oder Antihelden. Sie schwimmen dazwischen und wirken so banal wie wichtig. Ein Mordfall bringt für meinen Geschmack zusätzlich zu viel rein, das führt etwas vom Thema weg und ist eigentlich unnötig.

Das schreckliche Ereignis in der Vergangenheit indes bleibt zwar ungenannt, wird aber als religiöser Völkermord erkennbar. Die Andeutungen, die sich schließlich bewahrheiten, finde ich schockierend. Gerade, weil sie so realistisch sind und keineswegs eine unglaubliche Zukunft beschreien. Gleichzeitig finde ich die Lösung im Buch noch schockierender. Nicht nur, dass eine unbewusste, kulturelle Verbindung zum Auslöser für eine große Liebe gemacht wird, gleichzeitig wird Hass als elementar für eine Kultur und Gesellschaft herausgestellt. Abgrenzung und Ausgrenzung wird zur Notwendigkeit, aus der eine zerstörte Kultur wiedererschafft werden soll. Mal davon abgesehen, dass dies auf eine beinahe schon natürliche Feindschaft zwischen Religionen/Kulturen abzielt, was grotesk und als literarisches Thema in dieser Form fragwürdig erscheint, mag das Selbstbild durch Fremdzuschreibung durchaus real sein.

J wird dadurch zu einem Roman, der nicht schnell zu lesen ist, nicht schnell loslässt und in gewisser Weise nicht schnell zu verdauen ist. Aktuelle Gegebenheiten und der Schemen des Antisemitismus sind beim Lesen Begleiter, ebenso wie historische wie futuristische Ausblicke. Das lauernde Übel, dass durch die langsame Aufdeckung dessen WAS GESCHEHEN IST, FALLS ES GESCHEHEN IST und damit der Familiengeschichte Ailinns (und auch Keverns) – das dennoch nie vollständig genannt wird – ist schwer zu schlucken und wird keinesfalls als positiv herausgestellt. Die letzte Begründung, dass den Zurückgebliebenen dadurch das Feindbild flöten geht, bleibt für mich dann aber lächerlich und fragwürdig.

Ein durchaus lesenswerter Roman mit einem ungewöhnlichen Stil, der zwischen Nähe und Distanz pendelt und mittels Bausteine ein komplexes Bild liefert, auch nach dem Lesen noch zum Nachdenken anregt und dadurch vielleicht mehr bewegt, als auf den ersten Blick sichtbar. Der Verlauf und Thesengang mag mir nicht gefallen, ändert aber nichts an der Stimmigkeit innerhalb des Romans und des gelungenen Plots. Nicht zuletzt zeigt J nämlich auch, dass das Feindbild weder für alle gilt, noch durchweg durchsetzungsfähig ist, sondern viel mehr zwischen unerklärlicher Freundschaft und Feindschaft pendelt, was wiederum bedenkenswert ist.

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4 Kommentare

  1. Moin,

    Ihr Erschrecken über die These, Menschen, Völker und Religionen bräuchten zur inneren Befriedung den Haß auf andere, kann ich verstehen. Aber Sie haben den Roman doch hoffentlich nicht als Plädoyer für diese üble These gelesen? Das erschreckende Ende zeigt ja, daß dieser Haß in den Untergang des denkenden und fühlenden Menschen führt. Meines Erachtens führt der Roman recht plastisch und eindringlich vor, wie wir besser NICHT mit der dunklen Vergangenheit umgehen sollten: nämlich mit Verschweigen, Verdrängung, Auslöschung und Ausblendung der eigenen Schuld. Damit ist der Roman doch ein Plädoyer für das Gegenteil – und ein Plädoyer für die vielen schönen Dinge, die in der Welt dieses Romans verboten sind (und oft mit dem durchgestrichenen J anfangen): Jazz, Juxereien …

    1. Keineswegs sehe ich es als Plädoyer fürs Verschweigen. Und die zwiegespaltene Freundschaft zwischen den Frauen am Ende belegt ja auch inwieweit der Hass tatsächlich eben nicht als vorherbestimmt gedacht werden muss. Dass Ezs Plan im Grunde aber aufgeht und ihr Schlusswort selbst bewirken zumindest bei mir einen etwas pessimistischen Eindruck. Gerade das Nachwirken dieser Gedanken lassen den Roman in meinen Augen aber wichtig werden.

      1. Daß gerade die schlimmsten Pläne, auch haßerfüllte, oft aufgehen, entspricht ja leider der Realität unserer Welt, insofern setzt das Ende des Romans Realismus gegen Hoffnungen. Überhaupt ist Jacobson sicherlich ein pessimistisch (realistisch) denkender Autor, das vereint ihn (in diesem Punkt) mit seinem männlichen Helden. Dieser Pessimismus ist aber auch verantwortlich für das überlebenswichtige Ventil, das er sich sucht, nämlich den Witz (im Englischen „joke“, mit dem J am Anfang).

        1. So kann auch das letzte Wortspiel als Witz verstanden werde. Dass auch Keverns Humor mitunter nicht verstanden werden kann ist mit Sicherheit ein weiterer Punkt, der für die Kohärenz des Romans in diesem Bezug spricht. Dass Jacobson Realität gegen Hoffnung setzt, glaube ich indess nicht, trotz des Pessimismus, denn nicht umsonst gibt es den Ausdruck „guter Hoffnung sein“ und eine Zukunft gegen das Vergessen der Vergangenheit ist ja innerhalb des Romans durchaus von Hoffnung durchsetzt.

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