Günter Grass – Beim Häuten der Zwiebel

Wie erholsam das Schälen einer Zwiebel sein kann, war mir nicht bewusst, ehe ich die erste autobiographische Rückschau Beim Häuten der Zwiebel des großen Günter Grass in den Händen hielt. Ich wurde klitzeklein im Angesicht dieser Kunst mit Worten und Motiven umzugehen. Die vielen Feinheiten, die Andeutungen und Hinweise, dieses Buch kann man wie Manns Doktor Faustus immer wieder lesen und trifft stets auf Neues, allerdings lebhafter, fesselnder und belletristischer als Thomas Manns literaturwissenschaftliches Meisterwerk.

Grass erzählt eine Geschichte und diesmal gibt er zu, dass es seine Geschichte ist. Erzähler, Figur und Autor vermischen sich, sodass es nicht immer leicht ist, sie zu trennen. Dennoch bleibt Grass dabei mehr bei der Wahrheit, als jeder, der eine Autobiographie schrieb, es zuvor war. Er gibt zu, dass er sich irren kann. Dass durch den Schleier des zwiebeligen Tränenschleiers nicht immer alles deutlich zu erkenne ist, Abweichungen zwischen Erinnerung und Geschehenem nicht nur möglich, sondern auch anzunehmen sind. Ehrlich kann ein Mensch, der von sich erzählt nicht sein. Grass wahr den Schnitt zwischen Fremdbild und Selbstbild, auch wenn er von sich selbst ab und an in der dritten Person redet. Sein Jugend-Ich scheint ihm selbst fremd. Und wer kennt das nicht? Das Erstaunen über Dinge, die wir glaubten, die wir taten, heute, da wir es besser wissen. Grass glaubte an die Ideologie der Nationalsozialisten und kann es heute selbst nicht glauben. Mehr Ehrlichkeit habe ich aufgeschrieben noch nicht gefunden.

Und ich konnte ihm nicht böse sein. Auch die fatalen Jugendsünden werden vergeben, da er sich selbst mehr schämt, sich dadurch selbst bis in alle Ewigkeit brandmarkt, als wir es je könnten. Mitleid kommt auf, Verständnis in Momenten, in denen wir aus der Ferne nichts mehr verstehen können. Und selbst hier bleibt Grass der Spitzbube, der zwinkernd andeutet, der katholische Josef im Auffanglager könnte doch heute die weiße Kutte tragen. Es bleibt offen, wie so vieles, und gerade diese Offenheit macht das Buch so bemerkenswert. Schnell ist dieses Bild im Hintergrund, weicht dem Bildhauer Grass, dem Studenten, dem Verliebten. Immer begleitet ihn das Schreiben und Kochen, ungeahnte Verbindungen werden aufgezeigt. Wie viele Wege musste auch Grass gehen, bis er sich fand, und selbst dabei war deutlich, dass er dort nicht verweilen konnte, immer auf der Suche, immer in Bewegung, immer der Veränderung unterlegen. Bis zum Erscheinen der Blechtrommel legt Grass sein Selbst offen, das nicht mehr sein Selbst ist, und dass er nie ganz offen legen kann, weil es durch den Schleier der Zwiebel und im Inneren des Bernsteins nie klar ist. Wie wunderschön er diese Motive immer wieder einsetzt, die wir aus der Blechtrommel selbst kennen. Ein reines Lesevergnügen!

Inhaltlich angeschlossen an Beim Häuten der Zwiebel sind Die Box und Grimms Wörter.

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