Gehen, ging, gegangen – Jenny Erpenbeck

Auf Jenny Erpenbecks neuen Roman Gehen, ging, gegangen, 352 Seiten bei Knaus Ende August, habe ich mich wahnsinnig gefreut. Als Literaturwissenschaftlerin ist Erpenbeck mir mehr als nur ein Begriff und die Thematik von Gehen, ging, gegangen ist dabei so brandaktuell, dass ich es einfach nur jedem ans Herz legen kann.

Richard hat Zeit. Er ist emeritiert, Witwer, ohne Zeitplan oder Termine. Er weiß sie nicht zu füllen, diese Zeit. Zeit haben auch die Männer, die auf dem Berliner Oranienplatz kampieren. Flüchtlinge sind es. Asylbewerber aus unterschiedlichen Ländern. Sie suchen Arbeit, ein besseres Leben, Schutz vor dem Krieg in ihrem Land. Sie haben Menschen verloren, Freunde, Frauen, Eltern, Kinder. Sie wurden erschossen, sind ertrunken, einfach verschollen. Richard startet ein Projekt, von dem er nicht weiß, wohin es ihn führt. Er befragt die Männer, die in einem nahegelegenem Altenheim zwischenstationiert werden nach ihren Geschichten. Er besucht mit ihnen den Deutschunterricht. Er erfährt ihre Geschichten, die Behandlung, die sie erfahren, das Schicksal das sie teilen. Richard und diese Männer könnten unterschiedlicher nicht sein, kommen aus verschiedenen Welten und haben doch alle unfreiwillig Zeit.

Der Roman ist bewegend. Er fasst unglaublich präzise das Leben von in Deutschland gestrandeten Flüchtlingen auf. Unterschiedliche Wege haben sie nach Berlin geführt, wo sie alle eigentlich nicht bleiben dürfen, weil sie dort eben nicht zuerst angekommen sind. Herzergreifend sind manche Geschichten, erschreckend, aufrüttelnd.

Und dabei greift Erpenbeck nicht in die schmierige Kitsch-Schublade. Erstaunlich sachlich bleibt sie, bleibt der personale Erzähler bei Richard, der eben Professor war und alles etwas sachlicher sieht. Zwischen den Zeilen steckt die Emotion. Sie wird deutlich in Richards Schweigen, in seinem Handeln, in seiner Zeit und darin, wie er sie nutzt. Vielleicht sind es die kleinen Stellen, die diesen Roman so groß machen, die sich festsetzten und nicht mehr loslassen, auch noch Tage nach dem Lesen nicht.

Wie der Moment, an dem Richard zweifelt, an einem seiner Schützlinge, an sich selbst. Und keine Antwort findet. Der Zweifel steht im Raum des Romans. Er verletzt auf viele Arten. Dass es hier keine Antwort gibt, ist so ein großer Moment. Ein Moment, der auf alle „aber was ist wenn“ ein etwas stures aber klares „na und“ liefert.

Gehen, ging, gegangen ist dabei so sehr kein politisches Buch, wie es im Grunde eben doch eines ist. Richard zumindest ist nicht politisch. Er hat eine Meinung, er hat viel erlebt, diese Erlebnisse haben ihn geprägt und prägen den Leser im Lesen mit, prägen die Geschichte. Als ehemaliger Bewohner der DDR hat er den Mauerfall so emotionslos aufgenommen, wie er sich auch den Asylbewerbern auf dem Oranienplatz annähert. Der Leser ahnt mehr von dem Brodeln in Richards Innern, als dass er es offenbart.

Immer wieder geht es dabei nicht nur um Schicksale, sondern um Zeit. Zeit, die vergeht, Zeit, die aufgezwungen ist, festgelegt, Zeit, die vergangen ist und nicht mehr zurück geholt werden kann. Richard eignet sich diese unsichere Zeit der Asylbewerber an, indem er mit den Bestimmungen hadert, denen sie ausgesetzt sind – und denen er ebenso ausgesetzt ist. Er erfährt, wie unterschiedlich Zeit sein kann und wie ähnlich sie doch verläuft.

Erpenbecks Roman rüttelt auf, vielleicht nicht als gewaltiger Aufschrei, dafür aber als tief durchdachtes Fundament. Ungerechtigkeiten, Bürokratie und Einzelschicksale treffen aufeinander, vermischen sich um Richard, der in eine neue Welt eintaucht und einen neuen Rhythmus findet. Ein großartiges Buch, eine phänomenale Geschichte, die nicht nur im Sommer 2015 aktuell und lesenswert ist.

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