Dreiundzwanzigster Dezember: Festmahl

Doris presste die Einkaufstüten aus Gewohnheit an sich, obwohl der Zug zu dieser frühen Stunde fast leer war. Ein paar wenige Pendler waren so kurz vor dem Heiligen Abend noch unterwegs. Eine Frau mit dicker Wollmütze saß am anderen Ende des Abteils, ein Mann im feinen Anzug stand gewohnheitsgemäß im Türdurchgang. Vielleicht, dachte Doris, wollte er seinen Anzug nicht verknittern, vielleicht half ihm das Stehen aber auch dabei, einen klaren Kopf zu behalten. Manch einer war noch einmal eingeschlafen, auf den gepolsterten Sitzen, das Ruckeln des Zuges unter sich. Doris konnte das nicht passieren. Sie war viel zu aufgeregt, immer beobachtend und stets darauf bedacht, weder aufzufallen, noch unterzugehen. Ihre Tüten waren ihr Schutz und ihr Heiligtum.
Zu ihrer Überraschung drängten sich, kurz bevor der Zug endlich losfuhr, eine Gruppe Jugendliche hinein und ließen sich laut auf den Sitzen gegenüber nieder. Es waren drei, zwei Jungen und ein Mädchen. Sie waren müde, die Augenringe verrieten Doris, dass ihre Nacht kurz gewesen war, und Eile stand ihnen ins Gesicht geschrieben.
„Ey, Alter, wehe ich verpass meinen Zug“, sagte der eine, zog seine Jacke enger um sich und sah seinen Freund auffordernd an.
„Du verpasst den Zug nicht. Deine Alten sollen mal nicht son Stress machen. Ist doch jedes Jahr wieder Weihnachten.“
„Ey, ja, schon, aber es is eben Weihnachten. Und ehrlich, ich will das Essen nicht verpassen.“
„Echt jetzt?“
„Ey, klar. Meine Mutter tischt jedes Jahr fünf Gänge auf, immer was Exotisches und so. Voll das Gourmetmahl. Letztes Jahr gab es Känguru und so ne Caramelcremé.“
„Echt? Bei uns gibt es jedes Jahr nur Kartoffelsalat und Würstchen. Ich mein, es gehört irgendwie dazu und niemand muss lang in der Küche stehn und so.“
„Ey, nee, Kartoffelsalat käm bei meiner Mutter nicht auf den Tisch.“
„Is ja krass, wie unterschiedlich. Da Gourmet und bei uns Würstchen, die meist schon wieder halb kalt sind, bis alles und alle am Tisch sind.“
Die Jungs kicherten und schließlich schubste der eine mit der enggezogenen Jacke das Mädchen an.
„Und Biene bei dir?“
Sie hatte bis jetzt aus dem Fenster gesehen und dem Gespräch nur flüchtig gelauscht. So recht kam Doris nicht dahinter, wie das Mädchen zu den Jungs passte.
„Bei uns gibt es jedes Jahr eine Gans, mit Rotkraut, Kastanien. Vorher gibt es Suppe, Rindfleisch mit Meerrettich und später gibt es noch Kuchen. Aber erst, wenn das Geschirr gespült ist. Und wer nicht mithilft spülen, der geht Spazieren.“
„Ernsthaft? Arbeiten an Heilig Abend“, witzelte der zweite Junge. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an.
„Meinst du, die Würstchen kochen sich von selbst? Oder das Kängurusteak? Wer fährt uns denn gerade von einem Bahnhof zum anderen. Und wer hat euch Chaoten rechtzeitig aus dem Bett geworfen, damit Paul seinen Zug noch erwischt? Jeden Tag arbeiten Menschen. Auch an Heilig Abend.“
Doris lächelte für sich, als sie die sprachlosen Gesichter der Jungen sah.
„Ja, schon klar. Du bist die beste. Wie ich so ne Mitbewohnerin verdient habe, werde ich nie verstehen“, sagte der zweite dann etwas theatralisch.
Als Doris ausstieg pfiff ihr ein kalter Wind entgegen. Sie drückte die Tüten an ihren Körper und lief los. Bis zur ihrer Wohnung war es ein gutes Stück. Es waren noch immer nicht viele Menschen auf der Straße. Sie stieg mühsam die Treppen hinauf und schloss mit zitternden Fingern die Tür auf. Drinnen war es wenig wärmer, als draußen. Mit einem Seufzer stellte Doris die Heizung höher.
„Nachher, wenn Linda mit David kommt, soll es ruhig etwas wärmer sein“, erklärte sie ihrer Katze. Immerhin kam ihre Tochter selten genug, noch seltener mit dem Enkelsohn. Doch Doris konnte es ihr kaum verübeln. Eigentlich war sie auch lieber bei Linda, als in diesem winzigen Kabüffchen, wo irgendwie nichts wirklich zu ihr zu gehören schien.
Aus den Tüten holte sie ein paar Dosen Katzenfutter, eine Dosensuppe und eine Packung Rotkraut, Kartoffeln und ein bisschen Hühnerfleisch. Sie schaltete den Herd an, auf kleiner Flamme, und begann ihr Weihnachtsessen zu kochen. Immerhin würde Linda bereits am Mittag kommen. Und was wäre Weihnachten ohne ein Festmahl?

©Eva-Maria Obermann

Einen Tag vor Weihnachten könnt ihr auf meinem Blog „der Weihnachtsdieb“ von Mary und Carol Higgins Clark gewinnen. Kommentiert diesen Beitrag bis 23:59 am 23.12.14 und ihr seid im Lostopf. Viel Glück, viel Spaß und bis morgen.

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5 Kommentare

  1. Hallo und guten Tag,

    hm, schöne einfühlsame Geschichte, die eigentlich zeigt was Weihnachten bedeutet….

    In diesem Sinne eine schöne Weihnacht..LG..Karin..

  2. Hallo Eva,
    danke für das 23. Türchen.
    Ja eigentlich macht sich manch einer gar keine Gedanken darum, wer ihnen mit Dienstleistungen (und da gehört das Kochen dazu) das Leben verschönert.
    Eine sehr schöne Geschichte.
    Bei der Familie meines älteren Sohnes ist es üblich, dass sie sich während des Essens bei dem „Koch“ bedanken oder auch für kleine Hilfen immer mal ein Danke herüber kommt.
    Ich wünsche euch einen wunderschönen Tag
    LG Rose

  3. Hui da spring ich Mal in den lostopf

  4. Hey, 😉

    bei uns ist das eigentlich so das wir am Vortag oder am Morgen von Weihnachten alles zusammen schnippeln und dann fangen wir an essen. Da es bei uns Weihnachten immer Raclette gibt, kocht sich im Prinzip jeder selbst sein Essen. :`D
    Die Geschichte war richtig schön, vor allem, weil sie zeigt, dass sehr viele Jugendlichen es für selbstverständlich halten das ihre Mütter an Weihnachten in der Küche stehen und kochen.

    Viele liebe Grüße und frohe Weihnachten

    Ricarda

    ricarda.kehlert@gmx.de

  5. Hallo Eva,

    ja was wäre das Fest ohne Festmahl? Ich wünsche Dir einen schönen Abend
    und ganz liebe Grüße

    Jutta

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