Die Sucht am Sehnen – Sehnsucht in Selim Özdogans „Wo noch Licht brennt“

Sehnsucht. Kaum etwas treibt uns mehr an, verzerrt unsere Wahrnehmung, lässt uns hoffen und leiden. Auf so vielen Ebenen ist sie zum Lebensinhalt geworden, heute verpackt im Streben nach Glück. Schon das Wort beinhaltet zwei elementare Eigenschaften dahinter. Das Sehnen, ein großes Wünschen, beladen mit viel Emotion. Und die Sucht. Mitreißend, unabdingbar, aber auch zerstörerisch.

Romantisches Sehnen

In der Literatur kennen wir die Sehnsucht aus den Heldengeschichten der Antike, aber vor allem auch aus der Romantik. Fern- wie Heimweh, ein inneres Glühen, der irrationale Drang in die Gefahr – das alles versammelte sich hier. In klarer Abgrenzung zur Aufklärung, die eine Entmythologisierung und konsequente Rationalisierung forderte. Und noch heute verbinden wir Sehnsucht mit einer unsteuerbaren Leidenschaft.

Die Romantik [wollte] eine Gegenwelt zur Vernunft gestalten, für die Bewußtsein und Reflexion, aber auch die Abgründe des Seelischen, Traum, Sehnsucht, Unbewußtes, Dämonisches und Heiliges als entscheidend galten. S. 396 – Daten deutscher Dichtung, Herber A. und Elisabeth Frenzel, dtv, Band 1, 2001.

Mystik, Sehnsucht, Magie – Motive der Romantik

Wo Hollywood-Romanzen Sehnsucht als Kitsch-Faktor einsetzen und Liebe als Passion – übrigens auch ein in der Antike wie in der Romantik beliebtes Motiv – einsetzen, gibt es auch ganz andere, wesentlich tiefere Ansätze. Selim Özdogan beispielsweise nutzt Sehnsucht in seinem neuen Roman Wo noch Licht brennt als Leitmotiv. Immer wieder taucht das Wort selbst auf, und selbst ohne diese explizite Nennung, wird der Antrieb klar. Gül sehnt sich immerzu. Erst nach Deutschland und ihrem Mann, dann nach ihrer Heimat Türkei. Sie sehnt sich nach ihren Kindern, nach ihrem Vater, der zu früh verstorbenen Mutter.  Güls unentwegtes Sehnen ist so groß, dass sie es überall sieht und alles darauf zurückwirft.

Die Sehnsucht in Wo noch Licht brennt

Gül fragt sich, ob alles aus Sehnsucht entstanden ist, die Telefone, die Fernseher, die Fotoapparate, ist das alles erfunden worden, weil ein Mensch sich einem anderen näher fühlen wollte. Ist die Sehnsucht die Kraft, die alle antreibt? S. 25, Wo noch Licht brennt, Selim Özdogan.

Wie eine waschechte Romantikerin läuft Gül ihrer Sehnsucht hinterher und wird immer wieder enttäuscht. Sobald sie angekommen ist ruft die Sehnsucht dem Igel in der Fabel gleich: „Ich bin schon da“. Ist es wirklich dies Sucht am Sehnen, die uns immer wieder voraus oder zurückblicken lässt? Die Überbrückung von Raum und Zeit durch Medien müsste dann doch Sehnsucht vernichten. Wir können in Echtzeit mit Menschen auf der anderen Seite des Planeten kommunizieren, elektronische Post im Sekundentakt austauschen, Videos ansehen, während sie noch aufgenommen werden. Löscht oder löst das unsere Sehnsucht? Geht das überhaupt?

Am Ende der Sehnsucht

Jeden Morgen sitzen die beiden vor Saniyes Laptop und Gül begreift nach und nach, was dieses Facebook für Saniye ist und wie sie es nutzt. Innerhalb einer Woche steigt die Zahl von Güls Facebookfreunden von sechs, ihren Töchtern und Enkel und Ferdi, auf 42. Nach dem Frühstück setzen sich die Freundinnen gemeinsam hin und schauen, wer was gemacht hat, wer Aphorismen, Zitate, Sprüche, Gedichte, kurze Filme geteilt und geliked hat. Sie sehen Fotos von Hochzeiten, Verlobungen, Urlauben, Familienfeiern, von Neugeborenen und Kleinkindern. S. 289, Wo noch Licht brennt.

Eine neue Sehnsucht entsteht. Die, überall gleichzeitig zu sein, alles mitzubekommen, Verbindungen, die es schon immer gab, mit einem Klick zu bestätigen. Gleichzeitig beginnt auch Gül, Beiträge zu erstellen. Sie sehnt sich danach dort zu sein und es bestimmt ihren Alltag fortan mit. Und die alte Sehnsucht verschwindet nicht. Im Gegenteil. Das Sehen der Bilder überbrückt scheinbar Distanzen, löst aber den Wunsch aus, wirklich dort zu sein. Gül, die seit dem Tod ihrer Mutter den Schmerz des Verlustes und Sehnens in sich trägt, ist nicht bereit das loszulassen. Ihr alte Freundin Suzan trifft es auf den Punkt:

Ich habe keine Sehnsucht genährt, so wie du es getan hast, und ich habe nicht unter der Trennung gelitten. S. 310, Wo noch Licht brennt.

Denn genau das erreicht Gül immer wieder, indem sie sich Sehnsuchten regelrecht sucht. Sie leidet. An Fernweh wie Heimweh, an Schuld und Scham, an der Vergangenheit und der Gegenwart. Sie wird selbst zum Symbol der Sehnsucht, nirgends wirklich zu Hause und überall verbunden. Und doch ist es genau das, was ihr immer wieder Kraft gibt. Hoffen, Erkennen, Lieben, Sehnen. Diese Momente werden bei Gül immer wieder verbunden, das eine ist ohne das andere nicht denkbar und zieht sich durch ihre ganze Familie. Doch jeder geht anders mit diesem inneren Antrieb um und trifft Entscheidungen. Allein Gül ist vorwiegend sehnende Beobachterin mit einem geradezu kindlichen Staunen für die Welt. Wenn man sich danach nicht sehnen kann, wonach dann?

 Gewinnspiel

Ich freue mich sehr dank des Haymon Verlags und Literaturschock ein Exemplar von Selim Özdogan Wo noch Licht brennt verlosen zu dürfen. Hinterlasst mir einen Kommentar, in dem ihr mir eure antreibende Sehnsucht verratet und sichert euch ein Los.

Teilnahme ab 18, der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Doppelte Gewinne werden ausgeschlossen.

Dieser Beitrag ist im Rahmen der von Literaturschock geplanten Blogtour zum Buch Wo noch Licht brennt entstanden. Die weiteren Beiträge findet ihr auf:

16.08 – Bücherstadtkurier
17.08 – 54books
18.08 – hier
19.08 – Teesalon
20.08 – Literaturschock

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4 Kommentare

  1. Liebe Eva,

    wenn man diesen Beitrag liest wird man regelrecht mit dem Gefühl des Sehnens umschlossen, hat gar keine Wahl sich dagegen zu wehren! Die Sehnsucht, dieses Sich-irgendwohin oder nach irgendwem oder -etwas zu träumen und zu verzehren gehört doch irgendwie zum Leben dazu. Was wären wir ohne dieses traurig-warme Gefühl? Ich gehöre zum Klischee. Ich sehne mich fortwährend nach dauerhaftem Glück und der Lebensfreude. Mal mehr, mal weniger melancholisch. 😉
    Dieses Buch werde ich auf jeden Fall lesen! Falls ich es gewinne, ist meine Freude umso größer!

    Wünsch dir ein schönes Wochenende,
    GlG vom monerl

    1. Liebes Monerl,

      Ich glaube auch, dass unsere Sucht nach Höher, Weiter, Mehr im Grunde nichts anderes ist und vielleicht nicht nur, was uns antreibt, sondern auch die große Antwort auf den Sinn unseres Lebens. Der Weg ist das Ziel. Danke für deinen Kommentar 😘

  2. Das hast Du wirklich wunderschön geschrieben!

    Neri, Leselaunen

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