Die Sache mit dem Regenschirm (4ter Dezember)

Es schneit. Um 11 Uhr hat es angefangen. Winzige Flocken, mehr ein Rauschen, als ernsthafter Niederschlag. Doch kaum hatte der Blick die Flocken einzeln ausgemacht, wurden sie dicker, nahmen Form an. Bald wirbelten sie rundherum, prasselten in die Augen, bedeckten die Wintermützen und Jackenschultern. In den offenen Taschen wellten sich die losen Blätter.

Gegen 12 fuhren die Autos auf den Straßen Schritttempo, die Fahrer pressten die Nasen an die Scheiben, um den Weg noch zu erkennen. Die Züge dagegen fuhren noch, mit leichter Verspätung zwar, aber dennoch regelmäßig. Der Strom der Pendler presste sich schnaufend durch die Türen in die überhitzten Wagons. Die Luft vor den Scheiben war weiß.

Die Vorbereitungen gegen den ersten Schneefall des Jahres anzukämpfen verliefen auf Hochtouren. Dabei blieb auf den Wegen nur wenig liegen. Erst auf den Rasen lag weißer Flaum. Doch die Flockendichte in der Luft ließ mehr erwarten. Die Schneebesen wurden bereitgestellt. Einige streuten schon, feine Steinchen oder bissiges Salz, um nicht später hinaus zu müssen, wenn die Kälte der Nacht der weißen Decke einen Weg ebenen würde.

In den Zimmern tranken sie heißen Tee und blickten nach draußen, besorgt schon ob der nächste Tag ein Vorankommen auf Straßen und Gleisen möglich machen würde. Abdeckplanen lagen bald auf den Windschutzscheiben, um das Kratzen zu sparen, der Wecker wurde vorsichtshalber früher gestellt. Wie der Schnee uns doch in den Zustand zwischen Begeisterung und Besorgnis überführt. Die schöne weiße Winterwelt, in der sich Kälte und Gefahr verstecken. Alle Jahre wieder.

Die Fußgängerwege lichteten sich schnell. Mutige stapften noch, sachte mit den Schritten, dicke Mützen auf dem Kopf, einen Schal um die Nase gewickelt, die Hände in wolligen Handschuhen versteckt und gefütterte Winterschuhe an den Füßen durch das Schneetreiben. An alles dachten sie. Aber auf die Idee, einen Regenschirm mitzunehmen, gegen das Flockenmeer, das doch nichts anderes ist, als gefrorener Regen, kam keiner.

©Eva-Maria Obermann

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