Der Traum meiner Mutter – Alice Munro

Der Traum meiner Mutter von Alice Munro lag schon länger auf meinem Staple. 220 Seiten hat der Band mit Erzählungen, die sich vor allem mit Mutterfiguren, Mutter-Tochter-Beziehungen und Frauenbildern beschäftigen, also ideal für meine Doktorarbeit zur Mutterfigur in der Gegenwartsliteratur.
Ich war absolut beeindruckt. Mit so einfacher Sprache so komplexe Beziehungsgeflechte aufzuzeigen, die dabei noch die historischen Unterschiede berücksichtigen, ist genial. Die Geschichten spielen alle mindestens zehn Jahre in der Vergangenheit, die Frauen stehen stets an Schwellen, an dem Punkt, sich selbst zu verlieren, eine wichtige Entscheidung zu treffen, Fehler zu begehen. Keine ist eine perfekte Mutter, vielmehr geht es um die fehlerhafte Mutter, die dadurch an sich selbst geprüft wird und auch ihr Kind verändert. Ebenso geht es anders herum. Die Mutterschaft und die Beziehung zum Kind wird als wichtig, aber nicht notwendig herausgearbeitet. Vielmehr gehören in den Erzählungen Probleme, tiefschürfende Probleme, zum Leben und zur Mutterschaft. Nichts bedingt sich hier absolut und doch scheint alles zusammenzupassen.
Die Mutter, die ihr Neugeborenes fast vergiftet und dadurch erst in ihrer Mutterrolle ankommt, die Frau, die ihre Familie verlässt, um sich selbst zu finden, das Mädchen, dass eine Ehe retten will oder die junge Frau, deren Vater Abtreibungen vornimmt, die ihr eigenes Kind zur Adoption freigegeben hat, sie alle sind gezeichnet und dennoch stark. Sie sehen die Grenzen, die die Gesellschaft ihrer Rolle zuschreibt und entwickeln sich doch, geben trotz des Lebens nicht auf, sehen den Abgrund, fallen und fallen doch nicht. Sie suchen sich selbst, suchen einen Platz für die Frau, für die Mutter, die Tochter, in den sie passen können und erkennen, dass sie sich ihren Platz erst schaffen müssen.
Die Geschichten sind erstaunlich leicht zu lesen, fesselnd in sich selbst und realistisch. Nein, die Welt wird nicht als wunderschöner Ort dargestellt, in der die Frau triumphiert. Der Weg ist hart und das Ende nicht unbedingt immer rosig. Leid, Schmerz, Tod, alles gehört dazu. Die Frauen kämpfen mit dem Alltag, sie sind keine Übermütter, sondern ganz normale Menschen.
Ich finde die Geschichten großartig, weil sie nichts verheimlichen und dennoch weder Hoffnung schüren, noch den Leser hoffnungslos zurücklassen. Der Stil ist gekonnt, die Worte gezielt, die Geschichten, wie nebenbei erzählt, treffen tief. Absolute Leseempfehlung für alle, die gute Literatur mögen.

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