Der Mannheimer Bahnhof. Menschenmassen drängen an Baustellenschildern vorbei. Ein Pfleger schiebt einen Rollstuhl im falschen Gang, der Fahrstuhl ist auf der anderen Seite. Vor mir bleibt eine Frau plötzlich stehen, ich weiche instinktiv aus, wie ein Insekt, das ein Hindernis spürt. Jemand flucht, jemand redet, jemand summt. Zu laute Musik dringt aus irgendwelchen Ohrstöpseln, ich passe meinen Schrittrhythmus an. Nicht stehenbleiben.
Die Türen, die Halle, der Gestank von altem Fett, verschüttetem Alkohol, Zucker und Brötchen, gemischt zu einem alltäglichen Geruch. Die Treppen, Bilder auf den Stufen, die zusammen ein größeres Bild ergeben, zusammen mit allem anderen das Bild des Bahnhofs. Jeden Tag aufs Neue.
Menschen auf Illustrierten hängen im Kiosk, strahlen vom glänzenden Umschlag, noch mehr Bilder. Die Wörter gehen unter. Und kurz bevor ich es schaffe, den Ausgang zu erreichen, von wo aus Zigarettenrauch mit Straßenlärm und bimmelnden Bahnen mir entgegenwappen, das Zentrum der Halle. Immer wieder mit wechselnden Ständen, Besteck, Schmuck, Mützen, Brot. Heute Malteser. Nicht aufblicken, hinblicken, ansprechen lassen. Nicht wegschauen, Verdacht erregen. Gut Menschen sind es, die Gutes tun. Drängt die Zeit? Ein bisschen.
Die erste Ausrede, als er mich anspricht, freundlich, bestimmt, und doch mit Ähnlichkeit zu einer Schlange, die ein Opfer erspäht hat. „Es geht nicht um Zeit, sondern um die Kinder“, sagt er und ich lache innerlich. Keinen Angriffspunkt bieten. Ich würde, wenn ich könnte. Würde ich? Studentin und Mutter, da ist kein Geld, dass ich am Bahnhof geben könnte, schon gar nicht im Abo, wie sie wollen. Ich kenne die Reden, die Absichten, die guten, die irgendwo dahinter stecken. Nicht nachgeben. Ich lass ihn nicht ausreden, vergeudete Zeit für ihn, denn ich kann ihm nichts geben. Männer in Anzügen, Frauen in Kostümen laufen vorbei, werden nicht angesprochen. Aber ich mit Aldi-Jacke und zerlaufenen Schuhen, Wasserfarbspritzer auf der Hose, von gestern, vom Malen mit meinem Sohn. Mich spricht er an.
Unwillkürlich überkommt mich beim Verlassen des Bahnhofs das schlechte Gewissen. Vielleicht hier ein paar Cent, doch ich weiß, es ist kein Raum für das, was die Malteser im Mannheimer Bahnhof heute von mir wollen. Später vielleicht? Wenn ich neben meinem Kind, dem Elternbeirat, dem Vorlesen im Kindergarten, wenn ich neben all dem nicht nur weiterhin ich selbst sein kann, sondern etwas übrig habe, Zeit oder Geld. Und mein Gewissen ist wieder unangetastet. Ich gebe, nur eben auf andere Art, wirke mit. Heute, jetzt, hier und auch ohne Stand im Mannheimer Bahnhof.

©Eva-Maria Obermann

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