Das Nest – Cynthia D’Aprix Sweeney

Bei Klett-Cotta erschienen ist der Familienroman Das Nest von Cynthia D’Aprix Sweeney. 417 Seiten hat die elektronische Version, die ich über NetGalley bekommen habe, übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner. Vielen Dank für mein Exemplar und diese tolle Geschichte!

Als Leo so richtig Mist baut, muss dafür die Erbschaft angezapft werden, die eigentlich bald an ihn und seine drei Geschwister ausgezahlt werden sollte. Das Nest, wie die vier es immer genannt haben, ist plötzlich weg. Während die Schriftstellerin Bea eher in einer Schaffens- als in einer finanziellen Krise steht, muss Melody ihre Zwillinge aufs College schicken und eine Hypothek abzahlen und Jacks Antiquitätenladen ist bereits dabei, sein Sommerhaus aufzuzehren. Leo verspricht, das Geld wieder zu beschaffen und versucht da einzusteigen, wo er vor seiner Hochzeit ausgestiegen ist. Die Küken müssen sich der Realität stellen.

Die Küken im Nest

Allein die durchziehende Metaphorik des Nestes finde ich großartig. Während alle Figuren längst erwachsen sind und Melody, als jüngste, gerade 40 wird, wird schnell klar, wie infantil sie sind. Die Vorstellung des sie behütenden finanziellen Nests, das auf sie wartet, hat die Küken nie wirklich flügge werden lassen. Sie handeln unbedacht, egoistisch, ohne einen realen Sinn für die eigene Zukunft. Ihre Probleme mögen „erwachsen“ geworden sein, sie sind es nicht. Statt sich um erstes schriftstellerische Versuche, Beliebtheit oder erste sexuelle Erfahrungen zu sorgen, geht es ihnen nun plakativ um Geld, Kinder, Heim. Doch wie sie das angehen ist so herrliche kindisch, dass der Familienroman die Adoleszenzgeschichte der alternden Generation festhält. Nie erwachsen zu werden, hat sie zu Karikaturen gemacht, deren Konturen nun auszubrechen drohen.

Der Bruder-Vater

Die elementare Figur dabei ist Leo. Nicht nur, weil er den Auslöser liefert. Vielmehr ist er die Vaterfigur, die ableget werden muss. Während die Mutter der vier Geschwister schnell als „unmütterlich“ identifiziert werden kann, zeigt sich in den Erzählungen über den leiblichen Vater (dessen Name Leo geerbt hat), dass er es war, der das Nest „gebaut“ hat. Nun fällt seinem ältesten Sohn die Aufgabe zu, es wieder zu errichten. Der Eindruck, dass Leo nicht nur der große Bruder ist, sondern Vaterqualitäten hat, wird in den Rückblenden seiner Geschwister nur allzu deutlich und kehrt sich mit dem Buchende zu einem geradezu offensichtlichen Element um. (welches ich meine, müsst ihr schon selbst nachlesen 😉 )

Verfall und Entwicklung

In manchen Momenten erinnerte mich das Nest durchaus an die großen Klassiker des Familienromans. Ich dachte gerade durch den finanziellen Aspekt mehr als einmal an die Buddenbrooks. Bei Cynthia D‘Aprix Sweeney verfällt die Familie nicht, sie wird erwachsen. Und das trifft den Nerv einer Zeit, der nachgesagt wird, nur große Kinder heranzuziehen. Es gibt Momente, die sich in den Generationen wiederholen, dunkle Eigenschaften, die auftreten. Einprägsam finde ich die Momente des Erkennens. Dass Loslösen zum Weiterentwickeln dazugehört und der Glaube an uns Selbst elementar ist.

Lesen!

Das Nest ist ein großartiger Roman, der das Erwachsenwerden einer Generation zeigt, die es nie richtig gelernt hat. Vielleicht ist es ein Blick in unsere Zukunft, viel eher aber ist es ein Zeitroman. Und so viel mehr. Er nimmt das alte Thema des kommenden Heils und gibt den Figuren die Verantwortung für ihr Leben selbst in die Halt. Das macht ihn geradezu zeitlos. Er stellt dabei Geld als Leitmedium hervor, dass die alte Instanz der Religion und des Seelenheils abgelöst hat. Und vor allem, und das macht er wirklich großartig, zeigt er, dass Verlust und zerschlagene Träume, Entwicklung und Neues, Loslassen und Gewinnen sehr nahe beieinander liegen. Die Karikaturen schaffen sich neue Konturen, werden tiefschichtig, die Entwicklungen sind fabelhaft. Lest das Buch. Jeder von euch.

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