Cloud Atlas – David Mitchell

Zugegeben, es gibt wohl Dutzende Dystopien, die sich ebenso gut geeignet hätten, die Juni Aufgabe für Einmal durchs Regal zu bewältigen. Und vielleicht ist Cloud Atlas von David Mitchell (zu Deutsch: Wolkenatlas), das viele vielleicht in der berühmten Verfilmung kennen, deshalb kein Paradebeispiel, weil es ja nicht gänzlich in der Zukunft spielt. Doch die 544 Seiten haben mehr Dystopisches in sich, als der erste Blick vermuten lässt.
In sechs Geschichten, die ineinander „gesteckt“ werden, wird die Geschichte von sechs Personen erzählt. Dabei greift der Autor auf die unterschiedlichsten Methoden zurück. Ein Reisetagebuch, Briefe, eine Kriminalgeschichte, ein Ausbruch aus einem Altersheim mit Ich-Erzähler, ein Interview und die sprachlich sehr interessante Geschichte im Mittelpunkt des Buches. Es ist auch die einzige Geschichte, die in einem Stück erzählt wird. Ineinander verschachtelt beginnt und endet der Roman mit den Tagebucheinträgen eines Reisenden zur Zeit des Sklavenhandels, die Geschichte in der Mitte ist eine der beiden, die im Gegensatz dazu in der Zukunft spielt. Streng genommen ist also nur ein Teil des Romans eine Dystopie, die Geschichte von Somni~451, einer synthetisch produzierten Kellnerin, die Individualität, Intelligenz und Wahrheit erwirbt, und der Bericht von Zachry, der in einer postapokalyptischen Welt überleben muss, wobei diese Geschichte keinen negativen Ausgang per se hat. Doch, mal ehrlich. Wenn in Fahrenheit 451 die Bücher auswendig gelernt und ihre Botschaft so erhalten bleibt, wenn in I am Legend die lebenden Vampire eine neue Gesellschaft aufbauen und in die Tribute von Panem das schlaue Mädchen immer wieder einen Weg findet, die Medienherrschaft auszutricksen, dann ist das mit dem negativen Ende doch eher nebensächlich zu sehen. Viele Dystopien enden eben, bevor wieder alles in Ordnung ist, und impliziert viel mehr, dass es immer einen Ausweg gibt.
Und von einem anderen Blickwinkel aus sind alle Geschichten, die Cloud Atlas unter zwei Buchdeckeln vereint, Dystopien. 1850 war für die afrikanische Bevölkerung, die als Sklaven in alle Herren Länder verschleppt wurden, bestimmt eine erschreckende Gegenwart, die Befreiung der Sklaven für die weisen Herrschaften dagegen ein geradezu dystopischer Gedanke. Die Atomenergie hat uns gewisserweise immer noch in einer negativen Zukunft gefangen, und dass manches Altersheim mehr Gefängnis und negative Zukunftsvorstellung für viel ist, ist nicht schwer zu glauben. Am Ende macht es der Standpunkt aus, wie dystopisch der Roman zu lesen ist. Dass alle Geschichten nicht nur ineinander verschachtelt sind, sondern aufeinander Bezug nehmen, macht die Bedeutung der vorrangegangen und nachfolgenden für die Dystopie von Somni~451 allerdings deutlich.
Es ist beeindruckend, wie stilreich der Autor die verschiedenen Geschichten aufbaut, wie er es versteht zu wechseln und jeder Geschichte ihren eigenen Charme gibt. Der Querverweis, der Bezug dazwischen ist auch gelungen. Immerhin wird immer wieder erforscht, welcher Künstler wir von wem beeinflusst wurde. Nichts anderes wird hier gezeigt. Der schicksalshafte Wink mit dem Geburtsmal als Komet ist meiner Meinung nach eine Nummer zu viel. Der Verweis zwischen den Geschichten langt, um eine Beziehung aufzubauen. Die Implikation, dass dies auf Genen, Geburt, Schicksal oder eine höhere Macht beruht, nimmt dem Roman den Zufall als Prinzip und macht ihn zu einer Sammlung von metaphysischen Ereignissen, von übersinnlichen Phänomenen. Er nimmt ihm die Realität und das finde ich sehr schade.
Da ich den Roman in Englisch gelesen habe, war Zachrys Geschichte sehr schwer für mich, zu lesen und zu verstehen. Die Sprache ist sehr reduziert, was in genialer Weise der wahrscheinlichen Entwicklung entspricht, mitunter seltsam komisch und eben auch ab und an schwer verständlich erscheint. Dadurch, dass die Geschichten zwar geteilt, aber auch klar getrennt sind, könnte ein Ordnungsliebhaber die einzelnen Geschichten zunächst als eines lesen, was den Roman zwar ordnet, aber einen gewissen Reiz nimmt, den andere Bücher haben, bei denen Schauplatz und Zeit mitunter unwillkürlicher wechseln. Manchem Leser wird aber gerade das gelegen kommen.
Ich fand das Buch sehr interessant, mit vielen guten Stellen, aber eben auch Merkmalen, die mir negativ aufgefallen sind. Lesenswert ist es aus vielen bereits genannten Gründen dennoch und durch die sechs Geschichten wird jeder Lesefreund auch Lesefreude gewinnen können.

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