Aslı Erdoğan – Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch

Ein Buch, das ich wahnsinnig wichtig finde und das ich deswegen auch lesen musste, obwohl es nicht immer leicht war, ist die Essaysammlung von Aslı Erdoğan Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch, erschienen mit 192 Seiten bei Knaus im März. Übersetzt wurden die einzelnen Essays von Sabine Adatepe, Şebnem Bahadır, Angelikar Gillitz-Acar, Angelika Hoch-Hettmann, Oliver Kontny und Gerhard Meier. Danke an das Bloggerportal und den Verlag für mein Rezensionsexemplar.

Essays lesen

Essays sind immer eine Sache für sich. Keine richtige Geschichte, keine richtige Erzählung, kein wissenschaftlicher oder so trocken journalistischer Text. Essays mischen gerne. Eine Studentin erkläre es mir mal als „Spaziergang der Gedanken“. Ich kenne Essays vor alle als Texte, die eine klaren Ursprung haben, eine Frage, einen Moment, dem sie auf den Grund gehen wollen. Sie schweifen dabei mal ab, sind mal sehr fokussiert oder auch mal einfach literarisch. Aber immer bewegen Essays zum Nachdenken, zum Überlegen und Infragestellen. Der Leser arbeitet mit.

So ist es auch bei Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch. Mit sehr unterschiedlichen Ansätzen berichtet Aslı Erdoğan darin aus der Türkei, aus ihrer Heimat, die sie liebt, die ihr entgleitet. Sie schreibt über Gräueltaten mit versteckten Worten, die unter die Haut gehen und von eigenen traumatischen Erlebnissen, die bewegen. Sie wird sachlich und nutzt gelungen Argumente. Kurz: Sie zeigt in diesen Essays eine gewaltige Bandbreite an schriftstellerischem Können.

Zeitgeschichte

Das beeindruckt und bewegt. Gleichzeitig informiert es. Fußnoten erklären auf welche Ereignisse die Autorin anspielt und selbst in den literarischen Tendenzen zeigt sich vieles, was dem europäischen Beobachter in Bezug zur Türkei nicht klar ist. Einzelfälle, historische Ereignisse, Momente von Aslı Erdoğans Leben, die mit der aktuellen Geschichte der Türkei verwoben sind. Großartig geschrieben.

So berichtet die Autorin vom jüngsten Putschversuch, von Diskriminierungen und den Andenken an Ermordete. Sie zeigt dabei einen sehr persönlichen, liebevollen Blick auf Land und Leute, einen sehr kritischen und wachen auf politische Geschehnisse. Persönlich, also subjektiv und gewiss nicht wertfrei, aber so reflektiert, dass Raum für den Leser und seine eigene Meinung bleibt. Das ist sehr gut gemacht und steigert sowohl das Interesse an den Essays, als auch das spätere Auseinandersetzen mit ihnen.

Cem Özdemir hat die Einführung für das Buch geschrieben und darin die biografischen Eckdaten der Autorin eingearbeitet. Ihre Gefangennahme, ihr Ausreiseverbot, ihr kleiner Kampf, der groß geworden ist. Allein das ist schon faszinierend. Und Nicht einmal das Schweigen gehört uns noch spielt genau darauf an. Dass die Option, mit den Augen zu rollen und stumm zu bleiben, keine mehr ist. Schweigen ist für Aslı Erdoğan unmöglich geworden, so unmöglich wie auch das direkte Aussprechen. Damit liefert und dieses Buch aktuelle Zeitgeschichte. Unbedingt lesen!

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5 Kommentare

  1. Hallo Eva,
    Danke, dass du mich auf dieses Buch aufmerksam gemacht hast. Das hört sich wirklich nach einem wichtigen Buch an. Ich scheue mich manchmal vor diesen etwas schwierigen Themen, habe mir aber für das jahr 2017 vorgenommen vermehrt zu diesen Bücher zu greifen. Bisher gelingt mir das nur ansatzweise. „Nicht einmal das Schweigen gehört noch uns“ werde ich mir aber mal näher anschauen.
    Hab ein schönes Wochenende
    LG
    Yvonne

  2. Gerade in den jetzigen Zeiten, in denen es auf politischer Ebene solche Unstimmigkeiten zwischen unseren Staaten gibt, ist ein Blick aus dem Innern der Türkei wichtig. Es muss bitter für die Autorin sein, auch noch den Nachnamen mit diesem Staatschef zu teilen.
    Das Buch interessiert mich sehr!
    Viele Grüße
    Silvia #litnetzwerk

  3. Julia | Literameer

    Hallo Eva-Maria,

    dieses Buch interessiert mich auch sehr. Jetzt nach deiner Rezension finde ich es noch interessanter als so schon.

    Ich finde es auch wichtig, dass es solche Bücher gibt, weil man so auch einfach nochmal die Chance hat sich ein anderes, eigenes Bild zu machen.

    LG
    Julia

    1. Es ist auf jeden Fall sehr intensiv und spricht viele Dinge an, die wir hier gar nicht so mitbekommen.

  4. Liebe Eva-Maria,

    danke für deine Rezension. Das Buch muss ich nun dringend auf meine Wunschliste setzen, da ich das Thema unheimlich wichtig finde. Von Asli Erdogan habe ich schon einiges gehört. Ich glaube deshalb wird es auch Zeit, dass ich nun etwas von ihr lese.

    Viele Grüße, Ramona (#litnetzwerk)

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