20.12 – Lorelai allein zwischen Papieren

Lorelai streckte sich und gähnte. Der Tag war lang gewesen, zu lang. Und kurz, zu kurz. Es war der Tag des Grauens, der nur von dem des Lärms übertroffen wurde, der ihr noch bevorstand. Beide schrecklichen Tage lagen immer kurz hintereinander. Fast zu viel, aber eben nur fast, sodass Lorelai es gerade noch aushielt und wusste, dass es danach lange dauern würde, ehe es wieder diese Hektik gab. Immerhin, der Tag des Grauens war vorüber.

Der Vormittag war gar nicht so schlimm gewesen. Die Frau hatte zwar das laut dröhnende, Luft saugende Monster durch die Wohnung gefahren, doch weil das kleine Kind mittags schlief, oder die Frau zumindest versuchte, es schlafen zu legen, es aber die Anspannung spürte und immer wieder wach wurde, laut schrie und schließlich gar nicht mehr einschlafen wollte, musste es eine Pause geben. Und weil die Frau lange versuchte, das Kind schlafen zu legen, es auch irgendwann wohl etwas schlief, hatte Lorelai tatsächlich Ruhe. Eine trügerische Ruhe, da Lorelai in ihrem Inneren wusste, dass das Grauen nur aufgeschoben war.

Am Abend war es über sie hereingebrochen. „Miau“, schrie sie, doch es war zu spät gewesen. Die Frau, der Mann und die Kinder waren plötzlich alle sauber gewesen, in sauberen Kleidern und ohne Essensreste an den Kinderhänden. Dann waren sie gegangen und Lorelai hatte gehofft, hatte schon beinahe geglaubt, sie wäre davon gekommen. Doch nein, nein, die Meute war über sie hergefallen, alle auf einmal, als die Familie wieder heimgekommen war. „Lore, Lore, Lorelai“, hatte die eine dickliche Frau gerufen und ihre nach scharfer Seife riechenden Finger nach Lorelai ausgestreckt.

Nachdem alle ihre Hände in Lorelais Fell vergraben hatten, sie die Mischung aus Seifendüften, Parfums und Essensgerüchen nicht mehr aus ihrer Nase bekam und die ganze Meute einen Heidenkrach veranstaltet hatte, waren sie gegangen, wie sie gekommen waren. Die Frau hatte erst das kleine Kind ins Kinderschlafzimmer gebracht, und schließlich auch das Große, das kaum noch die Augen offen halten konnte. Und ehe sie wieder runtergekommen war, hatten sich alle angezogen, in bunte Mützen und dicke Jacken gepackt und waren gegangen. Es war unvermittelt still geworden, die Frau und der Mann waren ins Bett gegangen, und ehe sich Lorelai versah, stellte sie fest, dass mitten im Flur ein Haufen bunten Papiers lag. Er roch nach dem Baum im Wohnzimmer. Es war ein riesiger Haufen und Lorelai überlegte, was damit zu tun sei.

Vorsichtig hob sie die Tatze und klopfte damit gegen das Papier, um zu prüfen, dass nichts darunter stand. Doch stattdessen blieb das Papier an ihrer Pfote kleben. Sie schüttelte sich und klopfte die Tatze gegen den Boden, um das Papier abzubekommen, doch es schien sich immer mehr festzuhalten. „Miau“, zischte Lorelai und biss schließlich in das freche Papier an ihrer Pfote. Es ließ sich von den Zähnen nicht richtig fassen und war seltsam glatt. Doch sie schaffte es endlich, es von ihrer Pfote zu bekommen. Da erst bemerkte sie, dass sie nunmehr mitten im Haufen Papier saß. Einen Teil hatte sie in ihrem Kampf mit dem hartnäckigen Stück im Flur verteilt. Ein paar Stückchen, die das kleine Kind vorher zerrissen hatte, segelten anmutig durch die Luft. Doch Lorelai war es genug Aufregung für einen Tag gewesen.

Lorelai streckte und gähnte sich. Das Papier knisterte lustig, aber es war weicher und wärmer als der kalte Flurboden. Sie drückte es noch etwas zurecht und legte sich dann hin, wo sie stand. Der Tag des Grauens war vorbei. Zumindest für dieses Jahr.

©Eva-Maria Obermann

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